«Du störst, O’Brady», knurrte er ungehalten. «Es sei denn, du willst bei unserem kleinen Vergnügen mitmachen.»
«Trevor schickt mich», erklärte der junge Mann atemlos und sah sich neugierig um.
«Ich denke, der sitzt in Falmouth und wartet auf meine Fracht.»
«Die … Fracht ist offenbar angekommen», erwiderte der Junge. «Jedenfalls soll ich Ihnen ausrichten, dass Ihre Braut gestern Abend wohlbehalten in Redfield Hall eingezogen ist.»
Kapitel 5
August 1831 // Jamaika // Neue Welt
Der unterdrückte Schrei einer Frau riss Lena aus dem Schlaf. Irritiert stützte sie sich auf ihre Ellbogen und schaute sich um. Nur zögernd begriff sie, wo sie sich befand. Maggie lag neben ihr und schlummerte noch immer friedlich. Allem Anschein nach hatte sie nur schlecht geträumt. Draußen war es bereits hell, und warmer Tropenwind wehte in die weißen Baumwollgardinen vor den halb geöffneten Fenstern. Ein heiterer, sonniger Tag kündigte sich an. Doch auch das muntere Vogelgezwitscher konnte die düsteren Bilder in Lenas Kopf nicht vertreiben.
Sie erinnerte sich genau, dass ihr im Schlaf eine Negerin erschienen war, das dunkle Gesicht schmerzhaft verzerrt und voll wehmütiger Anklage. Starke Hände hatten in diesem Traum zwischen die nackten Schenkel dieser dunkelhäutigen Frau gegriffen und einen winzigen, blutbeschmierten Körper aus ihrem Leib gezogen. Danach hatten die Hände das Kind an den verschrumpelten Füßchen hochgehalten und es mit dem Köpfchen nach unten baumeln lassen. Es war ein Junge, um einiges hellhäutiger als seine Mutter. Dann war ein schwarz gekleideter Mann gekommen, hatte die Nabelschnur mit einem Messer gekappt und das neugeborene Kind in einen Korb gelegt. Als drohe er den Kleinen wie Moses am Ufer des Nils auszusetzen, schrie die Mutter verzweifelt nach ihrem Kind. Doch niemand erhörte sie.
Lena fröstelte und fühlte sich leicht übel. Sie hatte noch nie gesehen, wie ein Mensch zur Welt kam, schon gar nicht bei einer Negerin. Vielleicht hatte ihr seltsamer Traum etwas mit Mr. Hansons Äußerung zu tun, dass die Niederkunft einer Sklavin für Edwards Abwesenheit verantwortlich sei? Trotzdem fragte sie sich, wie man nur so etwas Widerwärtiges träumen konnte. Nicht einmal Maggie durfte sie davon erzählen, weil die Geschichte sie ebenso entsetzen würde.
Ein Blick auf die kleine, goldene Standuhr, die auf der obersten Ablage des Sekretärs dem Bett gegenüber stand, verriet Lena, dass sie länger als gewöhnlich geschlafen hatte. Halb zehn, gaben die reich verzierten Zeiger an. Du liebe Güte, schon beinahe Mittag, und sie lag noch immer im Bett! Was wohl Edward dazu sagen würde, wenn er ihr unvermittelt seine Aufwartung machte?
Sie beschloss, noch vor dem Frühstück ein Bad zu nehmen. Am Abend zuvor hatte Estrelle ihr erklärt, dass sie morgens an der langen, gedrehten Goldkordel ziehen sollte, die vom Bettpfosten herabhing und zu einer Glocke führte, mit der man die Bediensteten herbeirufen konnte. Tatsächlich stand wenig später Larcy in der Tür.
«Missus wünschen?», fragte sie in gebrochenem Englisch.
Maggie, die von dem unvermittelten Besuch wach wurde, rekelte sich neben Lena und gähnte herzhaft, bevor sie die Augen aufschlug.
«Morgen», presste sie heiser hervor und sah sich ebenso verwirrt um, wie Lena es zuvor getan hatte.
«Ich möchte bitte ein Bad nehmen», sagte Lena zu Larcy.
Das schüchterne Mädchen nickte nur, drehte sich um und verschwand ohne ein weiteres Wort.
«Ich bitte auch», bemerkte Maggie mehr zu Lena und schnupperte demonstrativ am Ärmel ihres Nachthemdes. «Dass du es überhaupt neben mir aushalten kannst …»
«Falls du es nicht bemerkt haben solltest, man hat dir vor dem Schlafengehen noch Gesicht, Arme und Hals gewaschen. Viel mehr habe ich auch nicht zu bieten.»
Lena drehte sich zu Maggie um und gab ihr einen spontanen Kuss auf die Stirn.
«Gott sei Dank, du siehst viel besser aus als gestern. Außerdem scheinst du auf dem besten Wege, wieder ganz die Alte zu sein.»
«Ich fühle mich auch schon viel besser.» Maggie lächelte leicht verlegen, wobei ihr dunkler Zahn, den sie sonst immer hartnäckig hinter ihren vollen Lippen verbarg, für einen Moment zum Vorschein kam. «Und wenn es so weitergeht, werde ich dir spätestens morgen wieder zu Diensten sein können, versprochen!»
«Ach, Maggie.» Lena atmete hörbar auf. «Deine Anwesenheit reicht vollkommen aus. Hauptsache, ich bin nicht alleine in dieser seltsamen Welt.»
Als das magere Dienstmädchen mit zwei vollen Eimern im Türrahmen erschien, sprang Lena aus dem Bett und nahm ihr die Kübel ab, um das Wasser eigenhändig in den Zuber zu gießen. Larcy machte große Augen und eine abwehrende Geste.
«Missus muss das nicht tun», protestierte sie.
Doch Lena winkte ab. In den Häusern ihres Vaters in London und Hamburg hatten sie stets männliche Diener im Hause gehabt, die eine solche Aufgabe übernahmen. Aber Larcy war nicht mal die Hälfte von solch einem Kerl.
In der Zwischenzeit servierte Estrelle, die wohl erfahren hatte, dass die neuen Hausbewohnerinnen erwacht waren, ihnen unaufgefordert ein üppiges Frühstück ans Bett.
«Ich bringe Ihnen Früchtebrot, in Scheiben geschnitten und in Butter gebacken», erklärte Estrelle. «Dazu gebratenen Speck und Rührei.»
«Was ist mit dem Doktor?», fragte sie und stellte das Tablett auf das Beistelltischchen neben Maggie ans Bett. «Der Bote ist zurückgekehrt und meinte, dass Dr. Lafayette vor heute Nachmittag nicht hier sein kann.»
«Ich glaube, er wird gar nicht mehr so dringend benötigt», antwortete Lena mit Blick auf ihre schon viel gesünder aussehende Freundin.
Das Schlimmste musste überstanden sein. Maggies Appetit spiegelte sich bereits in ihren gierigen Blicken auf die zahlreichen Köstlichkeiten, die sich vor ihrer Nase auftürmten. Mehr oder weniger unentschlossen griff sie zu einer silbernen Gabel und seufzte verzückt. In einer bunten Porzellanschüssel waren in Würfel geschnittene Mangos und Papayas angerichtet. Eine Kristall-Karaffe lockte mit frisch gepresstem Orangensaft, und eine große Kanne frisch aufgebrühter Insel-Kaffee verströmte einen unnachahmlichen Duft.
«Das weckt die Lebensgeister», freute sich Maggie und stürzte sich auf das Essen. «Nimm du erst mal dein Bad», riet sie Lena mit einem verschmitzten Lächeln. «mal sehen, was danach noch für dich übrig ist.»
Nachdem Larcy zwei weitere Eimer Wasser in die Wanne gekippt hatte, zog Lena hinter dem chinesischen Paravent das Unterkleid aus und stieg mit einem lang gezogenen «Ah» ins warme Wasser. Larcy schien sie verwöhnen zu wollen, denn sie überbrachte ihr noch eine duftende Jasminseife und einen Berg weicher Handtücher.
«Danke, Larcy, du kannst dann jetzt gehen», sagte sie freundlich, als das Mädchen sie mit großen Brombeeraugen erwartungsvoll anstarrte.
Wahrscheinlich hatte sie noch nie eine nackte weiße Frau gesehen, dachte Lena und glitt bis zu den Schultern ins warme Wasser.
«Wenn Missus mich brauchen, dann läuten», erinnerte Larcy, drehte sich um und ging zur Tür hinaus.
«Der Kaffee ist wunderbar», schwärmte Maggie, die im Bett mit dem Geschirr klapperte. «Meine Mutter sagte immer, wenn der Appetit wieder kommt, ist man über den Berg.»
Lena seufzte zufrieden und begann, sich mit Schwamm und Seife genussvoll Arme und Dekolleté einzuschäumen. Kurzerhand beschloss sie, auch ohne Unterstützung einer Dienerin ihr Haar zu waschen. Hier unter der Sonne Jamaikas, bei den konstant hohen Temperaturen, würde es außerdem viel rascher trocknen als in Europa.
In Gedanken ging Lena ihre Garderobe durch und überlegte, was sich davon für eine erste Begegnung mit Edward eignen würde. Estrelle hatte die Reisekisten noch gestern Abend geöffnet und angeboten, einige Kleider aufzubügeln.