Das Bemühen, konsequenter reformatorische Kirche zu sein, wirkte deutlich profilierend. Man wollte das Wort Gottes konsequenter hören, deshalb hörte man es von Anfang an in der Einheit der Bibel Alten und Neuen Testaments. Reformierte Theologie betont stärker die Einheit der Schrift als die diese Einheit in Schwingung versetzende Unterscheidung von Gesetz und Evangelium. Sie unterscheidet, aber scheidet nicht, deshalb der konstruktive paränetische Gebrauch des Gesetzes Gottes. Man wollte den neuen Gehorsam der Christen energischer zur Geltung bringen und maß den Zehn Geboten (in ihrer ursprünglichen biblischen Zählung) großes Gewicht zu. Man widmete der Gestaltung des christlichen Lebens unter der Regie des tertius usus legis große Aufmerksamkeit. Die Rechtfertigung wurde mit Calvin final auf die Heiligung hingeordnet. Der Primat der Gnade kam wiederum in der Lehre von Gottes souveräner Gnadenwahl zum Ausdruck, die seit der Synode von Dordrecht (1618/19) als Identitätsmarker reformierter Orthodoxie gilt.
Bemerkenswert sind die Auffassungen zur Ordnung und Gestalt der Kirche. Die Gemeinden sollten wieder nach neutestamentlichem Vorbild gebaut werden. Calvin schuf deshalb das viergliedrige Amt von Pastoren, Lehrern, Ältesten und Diakonen. Seine Kirchenordnung sah die mündige Mitverantwortung der sogenannten Laien vor. Presbyterien und Synoden sollten in einem wohldurchdachten Zusammenspiel die Kirchenleitung ausüben. So entstand im 16. Jahrhundert die presbyterial-synodale Kirchenordnung. Leitungsämter wurden nach dem Rotationsprinzip besetzt; ein monarchisches Bischofsamt stand im Widerspruch zu dem Grundsatz, dass alle Pastoren »unter einem einzigen Haupt, einzigen Herrn und einzigen allgemeinen Bischof, Jesus Christus« dasselbe Ansehen und die gleiche Macht haben »und dass aus diesem Grunde keine Gemeinde irgendeine Obergewalt oder Herrschaft beanspruchen darf«.9
Das Verhältnis zu den Instanzen der politischen Herrschaft war in der Regel ein kritisches. Oft genug war man Kirche im Widerstand und in der Leidensnachfolge gewesen und wollte sich möglichst unabhängig von staatlicher Bevormundung wissen. Es war zudem nicht nebensächlich, dass Zwingli und Calvin in Stadtrepubliken wirkten, wo nicht fürstliche Obrigkeiten, sondern gewählte Magistrate die Geschicke lenkten. Man kann durchaus von einer besonderen politischen Sensibilität der reformierten Kirchen in Westeuropa sprechen und ihnen einen nicht unwichtigen Anteil an der neuzeitlichen Plausibilisierung demokratischer Herrschaftsformen zuerkennen.
Dass alles zur Ehre Gottes geschehen müsse, kann als ein Zentralmotiv reformierter Theologie gelten. Calvins Genfer Katechismus von 1545 sieht in der Gotteserkenntnis den Sinn des menschlichen Lebens. »Er hat uns ja dazu geschaffen und in diese Welt gestellt, um in uns verherrlicht zu werden. So ist es nichts als recht und billig, daß unser Leben, dessen Ursprung er ist, wiederum seiner Verherrlichung diene« (Fragen 1 und 2). Wenn uns die Gotteserkenntnis fehlt, »sind wir trauriger dran als irgendein Tier« (Frage 4), so dass dem Menschen »nichts Schlimmeres zustoßen kann, als gottlos zu leben« (Frage 5).10 Der Mensch wird aus der Verkrampfung in sich selbst gelöst und in die Weite der Gotteserkenntnis geführt. Weil allein Gott wichtig ist, braucht er sich nicht mehr wichtig zu nehmen. Man glaubte, liebte, hoffte, man arbeitete, dachte und wirkte unter dem Vorbehalt, dass alles menschliche Tun der Ehre Gottes dienen müsse. Deshalb blieb man fast immer nüchtern gegenüber einem Zuviel an menschlichem Gepränge, auf charmante Weise respektlos und unbefangen gegenüber aufdringlichen Autoritäten und ruhmbedachten Selbstdarstellungen, auf eine erfrischende Weise voll trockenen Humors gegenüber Heiligenlegenden, heiligen Gefühlen oder Personenkult.
IV.VERÄNDERUNGEN REFORMIERTER LEHRPOSITIONEN – DAS BEISPIEL DER LEUENBERGER KONKORDIE
Konfessionen sind geschichtliche Phänomene und unterliegen dem Wandel. Die Lehrdifferenzen des 16. Jahrhunderts lassen sich nicht maßstabgetreu in die Welt des 21. Jahrhunderts übertragen – glücklicherweise, möchte man sagen. Es gibt freilich immer auch Kräfte, die die Verflüssigung konfessioneller Differenzen mit Argwohn betrachten und beharrlich an deren Festigung und Versteinerung arbeiten.
Wer jedoch die heutigen weltanschaulichen und religiösen Umbrüche in Kirche und Gesellschaft vor Augen hat, wird dazu neigen, die herkömmlichen innerevangelischen Lehrdifferenzen als Anachronismen zu betrachten. Wo der Glaube an Gott so grundsätzlich zur Frage wird, wie wir das heute beobachten, verlieren die spezifisch protestantischen, ja sogar die katholischen Einfärbungen dieses Glaubens spürbar an Gewicht. Der Lutheraner Dietrich Bonhoeffer, dessen Neuzeitdiagnosen und Thesen vom religionslosen Christentum zu denken geben, hatte im August 1944 ausdrücklich vermerkt, dass sich auf dem Boden der elementar gestellten Frage »Was glauben wir wirklich? d. h. so, daß wir mit unserem Leben daran hängen?«11 die interkonfessionellen Kontroversfragen als überholt erweisen. Er fügte hinzu: »[D]ie lutherisch-reformierten – (teils auch katholischen) Gegensätze sind nicht mehr echt. Natürlich kann man sie jederzeit mit Pathos repristinieren, aber sie verfangen doch nicht mehr. Dafür gibt es keinen Beweis, davon muß man einfach auszugehen wagen. Beweisen kann man nur, daß der christlich-biblische Glaube nicht von diesen Gegensätzen lebt und abhängt.«12
Ganz gewiss hat Bonhoeffer überzeichnet. Auch bei der Frage »Was glauben wir wirklich? d. h. so, dass wir mit unserem Leben daran hängen?« dürfte man rascher von den konfessionsverschiedenen Antwortperspektiven eingeholt werden, als man zunächst vermutet hatte. Aber Bonhoeffer hat richtig gesehen, dass sich die konfessionellen Unterschiede angesichts der sehr unterschiedlichen Reaktionsweisen der christlichen Kirchen und Theologien auf die religiösen Verdunstungs- und Transformationsprozesse im heutigen Europa relativieren und umformatieren.
Das konnte man schon im sogenannten Kirchenkampf des Jahres 1933 und dann auf dem Weg zur Barmer Theologischen Erklärung beobachten. Karl Barth sah in seinen Vorbemerkungen zur Kommentierung des Entwurfs des Betheler Bekenntnisses eine Zeit gekommen, in der sich die Unionsfrage neu stelle, weil Reformierte und Lutheraner gemeinsam dazu herausgefordert seien, der Häresie der Deutschen Christen zu begegnen, die Barth als ebenso konsequente wie primitive Spätfolge des Neuprotestantismus einschätzte.13 Im Oktober 1933 schrieb Barth: »Die ernsthaften Fronten laufen heute wirklich durch die Grenzen der beiden überkommenen Bekenntnisse quer hindurch.«14 Fast wortgleich sprach die Leuenberger Konkordie15 40 Jahre später von »neue[n], quer durch die Konfessionen verlaufende[n] Gegensätze[n]« (LK 5) und kommentierte dann die derzeitige Lage so: »Aufgrund ihres gemeinsamen Erbes müssen die reformatorischen Kirchen sich mit den Tendenzen theologischer Polarisierung auseinandersetzen, die sich gegenwärtig abzeichnen. Die damit verbundenen Probleme greifen zum Teil weiter als die Lehrdifferenzen, die einmal den lutherisch-reformierten Gegensatz begründet haben« (LK 40). Und: »Es wird Aufgabe der gemeinsamen theologischen Arbeit sein, die Wahrheit des Evangeliums gegenüber Entstellungen zu