Dem Selbstverständnis einer nach Gottes Wort reformierten Kirche folgend, sieht sich reformierte Theologie an das Wort Gottes und an die dieses Wort bezeugenden Textwelten der Bibel gewiesen. In einer Diskurslandschaft, in der sich das Verhältnis der Systematischen Theologie zu Schriftauslegung und Exegese spürbar gelockert hat und sich die produktive Würdigung biblischer Texte als Entdeckungszusammenhang theologischer Erkenntnis nicht mehr von selbst versteht, möchte die reformierte Theologie für den Schriftbezug des theologischen Denkens eintreten und einem hermeneutisch engagierten Theologietyp den Vorzug geben. Michael Welker, für dessen Denken das interdisziplinäre Gespräch mit der Exegese programmatische Bedeutung gewann, und David Willis sahen den ökumenischen Beitrag der reformierten Theologie darin, »daß sie sich ruhig und beharrlich, kritisch und konstruktiv den vielen Versuchen widersetzt, das Wort Gottes zu entleeren und es unter die Herrschaft von Metaphysik, Moral, Mystik oder unter das Diktat des ›Zeitgeists‹ zu bringen«30. Es sei Aufgabe der reformierten Theologie, »den vertrauensvollen, kritischen und konstruktiven Dienst an Gottes Wort zu einer ›theologischen Haltung‹ werden zu lassen«31 und in den Pluralismen, Konflikten und Krisen der Zeit der befreienden, schöpferischen und erschließenden Kraft dieses Wortes Wege zu öffnen.
Eine Theologie, die sich in ihren Konzepten und Denkgewohnheiten immer wieder neu durch die Einsichten unterbrechen lässt, die aus der heutigen Begegnung mit den Textwelten der Bibel erwachsen, kann innovativ werden. Es sei an die dogmatischen Theorieschübe des 20. Jahrhunderts erinnert, von denen sich nicht wenige der reformierten Dogmatik verdankten: an die Neuformulierung des Verhältnisses von Gesetz und Evangelium, an die soteriologische Revision der klassischen Prädestinationslehre, an die differenzierte Weiterentwicklung der sogenannten Zwei-Reiche-Lehre und der christonomen Begründung der Ethik, sodann an die Weiterentwicklung der Sakramentslehre, ferner an die Verortung der christlichen Hoffnung im Horizont der gesellschaftspolitischen Verantwortung der christlichen Gemeinde, an eine die mitreißende Dynamik von Gottes Geist neu entdeckende Pneumatologie oder an die theologische Würdigung des Segens. Man kann hier durchaus von biblisch instruierten Modernisierungspotentialen für die theologische Theoriebildung sprechen, die die theologische Arbeit auf jeden Fall vor intellektueller Erschöpfung und Vergreisung bewahren.
Auch die ökumenische Dimension theologischer Arbeit kann durch Impulse aus der reformierten Theologie gefördert werden. Zwar sind die maßgeblichen ökumenischen Dialoge zwischen der römisch-katholischen Kirche und den evangelischen Kirchen über die Theologen des Lutherischen Weltbunds gelaufen; es schien, als habe dieser auf dem ökumenischen Parkett die Sprecherfunktion für die evangelische Christenheit übernommen, zumal man in Rom dazu neigt, die Protestanten mit den Lutheranern zu identifizieren.
Dabei wäre die Entstehung der Gemeinsamen Erklärung zur Rechtfertigungslehre (1999) durchaus konstruktiver und vielleicht auch weniger angespannt verlaufen, wenn man die Reformierten in die Ausarbeitung des Textes einbezogen hätte. Die reformierte Theologie denkt die Rechtfertigung des Sünders final von seiner Erneuerung her und dürfte an diesem Punkt einer berechtigten katholischen Intention entgegenkommen. Barths Interpretation der Rechtfertigungslehre und ihre Relektüre durch Hans Küng32 wie auch dann die schroffe Kritik Eberhard Jüngels an Barths christologischer Zentrierung der rechtfertigungstheologischen Kriteriologie33 haben das je auf ihre Weise belegt. Schon Calvin hatte unbeirrt am sola fide festgehalten, aber es zugleich wirksam vor dem Verdacht geschützt, der billigen Gnade Vorschub zu leisten. Und für die Heiligung des Gerechtfertigten war ihm der Gedanke eines Zusammenwirkens von göttlicher und menschlicher Aktivität geradezu konstitutiv, wie dann ja auch im 20. Jahrhundert in Barths Dogmatik das Konzept einer Partnerschaft zwischen Gott und Mensch zum Thema wird.
Perspektiven für die Ökumene bietet auch die reformierte Ekklesiologie. Es gibt zwar den von Confessio Augustana VII her formulierten Leitkonsens, dass pura doctrina evangelii und recta administratio sacramentorum die entscheidenden Kennzeichen der sichtbaren Kirche bilden. Dieser Konsens, der eine wichtige Voraussetzung der Leuenberger Konkordie geworden ist, wird von der reformierten Theologie bejaht. Aber sie würde deshalb die Frage nach Gestalt und Ordnung der Kirche nicht zu einem nachgeordneten Thema erklären. Seit jeher werden auch Fragen der Ordnung der Kirche und des Kirchenrechts als theologische Fragen erörtert. Die in der dritten These von Barmen behauptete Korrespondenz von Botschaft und Ordnung der Kirche34 lag ganz auf dieser Linie. In der explizit theologischen Würdigung von Ordnungsfragen trifft sich die reformierte Theologie mit der römisch-katholischen Auffassung, dass die äußere Gestalt der Kirche nicht als Adiaphoron behandelt werden kann. Sie gelangt dabei zu Konsequenzen, die in vieler Hinsicht einen Gegensatz zu den römisch-katholischen Auffassungen über Amt und episkopé der Kirche bilden. Aber der Zweitakt von verbindender theologischer Perspektive und zugleich Gegensatz im Verständnis des Amtes und der episkopé bietet die Gewähr, dass das ökumenische Gespräch spannend wird und nicht im Austausch von diplomatischen Formeln erstarrt.
Die Reformierten und ihre Bewunderer verweisen gerne auf die Einsichten reformierter Sozial- und Wirtschaftsethik, auf das reformierte Engagement für die soziale Gerechtigkeit, auf die reformierte Eindeutigkeit in der Friedensfrage, wie sie etwa 1982 in der Erklärung des Moderamens des Reformierten Bundes zum Ausdruck kam, oder auf den processus confessionis gegen die globale Ungerechtigkeit für die Solidarität mit den Armen, in dem sich die Reformierten auf Weltebene sehen. Hier ließen sich mannigfache Zeugnisse reformierter Parteinahme und Empörung anführen. Der politischen Leisetreterei kann man die Reformierten jedenfalls nicht bezichtigen.
Die Theologie kommt nicht umhin, zwischen der Programmsprache politisch-theologischer Manifeste und der ihr aufgegebenen Theoriearbeit zu unterscheiden. Beim Umgang mit den Weltproblemen muss sie die Geste des Prophetischen mit einem guten Maß an Differenzierung und Rationalität verbinden und so auf den Boden der Tatsachen zurückholen. Beispielhaft für einen solchen Theoriestil der reformierten Sozialethik war die Wirtschaftsethik von Arthur Rich.35 Sie hat mit ihren Kriterienbildungen, Aufstellungen, Modellen und Strategien des Abwägens und Urteilens die Diskussionen im Fach und deutlich darüber hinaus angeregt und wohltuend instruiert. Richs Wirtschaftsethik entstand in Zürich. Man darf ihr nachsagen, dass auch Huldrych Zwingli mit seiner auf konstruktive Zuordnungen angelegten Unterscheidung von göttlicher und menschlicher Gerechtigkeit zu den Paten dieses Werks gehört.
Der Titel meiner Darlegungen spielt mit dem Titel des 1972 entstandenen Films von Luis Buñuel Der diskrete Charme der Bourgeoisie. Buñuels surrealer Spott über die Dekadenz der High Society und die von ihm boshaft in Seidenpapier verpackten Skandale und Skandälchen der Elite haben möglicherweise bei manchem die Erwartung ausgelöst, mit diesem Vortrag sollte nun ein Buñuelsches Drehbuch für die reformierte Theologie geschrieben werden. Diese Erwartung habe ich gewiss enttäuscht. Aber dass die reformierte Theologie nicht ohne einen gewissen Charme daherkommt und dass diesem Charme, sofern er nicht vordergründig und aufdringlich in Erscheinung tritt, das Merkmal des Diskreten zugeordnet werden kann, das wollte ich denn doch zum Ausdruck gebracht haben.
1Die Zahl der Reformierten bewegt sich in Deutschland nach Angaben des Reformierten Bundes in Deutschland bei 1,5 Millionen Gemeindegliedern.