Interessant ist der Umstand, dass die Differenzen in der Tauflehre keine explizite Rolle spielten. Denn auch im Taufverständnis hatte es in der Vergangenheit beachtliche Differenzen gegeben. Sie wurden nur deshalb nicht zum Gegenstand von Lehrverurteilungen, weil Lutheraner und Reformierte stets die jeweils vollzogenen Taufen anerkannt haben. Die sich an Calvin17 orientierende Tauflehre betrachtet die Taufe mit Wasser als Abbild der durch Christi Blut vollzogenen Reinigung des Menschen von der Sünde. Dabei tritt das für Lutheraner wichtige kausative Moment der Heilszueignung im Vollzug der Taufe zugunsten des erwählenden Handelns Gottes zurück. So stellt die Taufe nach reformierter Auffassung die Gotteskindschaft des Menschen nicht her, sondern bringt sie als bereits bestehend zum Ausdruck; sie dokumentiert sinnfällig die Zugehörigkeit des Menschen zum Gnadenbund Gottes. Gottes Ja wird im Vorgang der Taufe unverbrüchlich bezeugt und bekräftigt, aber es geht ihm voraus und ist nicht an ihn gebunden. Aus diesem Grund hat die reformierte Theologie die Nottaufe abgelehnt.
Wenn man auf diesem Hintergrund den Taufabschnitt der Leuenberger Konkordie liest, wird man sagen können, dass sich die Reformierten inzwischen einem kausativen Taufverständnis deutlich angenähert haben: In der Taufe nimmt Jesus Christus »den der Sünde und dem Sterben verfallenen Menschen unwiderruflich in seine Heilsgemeinschaft auf, damit er eine neue Kreatur sei« (LK 14). Hinter dieser beachtlichen Annäherung kann ein Wandel der Denkformen im Sakramentsverständnis konstatiert werden. Dieser Wandel wäre auf jeden Fall als ein Wandel vom Zeugnischarakter des Taufsakraments zum Zueignungscharakter zu beschreiben. Auf jeden Fall haben die europäischen Reformierten und Lutheraner mit der Leuenberger Konkordie ein gemeinsames Verständnis der Taufe entwickelt, das über die klassischen Lehrdifferenzen hinausgeht. Heute kann auf der reformierten Seite der mit der Zuwendung Gottes zum Einzelnen verbundene Aspekt der Heilszueignung anerkannt und damit auch dem von den Lutheranern immer hervorgehobenen Charakter der Taufe als der eines wirksamen Zeichens (signum efficax) des Versöhnungsgeschehens zwischen Gott und Mensch Rechnung getragen werden.
Wer die Debatten um die Prädestinationslehre im 16. und frühen 17. Jahrhundert genauer verfolgt hat, wird ein wenig erstaunt sein, dass die Konkordie auch an dieser Stelle von den »Verwerfungen der reformatorischen Bekenntnisse« (LK 26) spricht. Das war nicht sehr genau. Die Prädestinationslehre hat im Reformationszeitalter keine kirchentrennenden Wirkungen gehabt und war bis etwa 1560 bei unterschiedlichen Akzentsetzungen Gemeingut reformatorischer Theologie. Erst in der Folgezeit wurde sie zu einem beliebten Topos der gegenseitigen Konfessionspolemik.18 Regelrechte Lehrverurteilungen bieten dann die Canones der Dordrechter Synode von 1619.19 Verkompliziert wird die Situation noch dadurch, dass der Heidelberger Katechismus nur verhalten von der Prädestinationslehre spricht und keine Lehre von der doppelten Prädestination vertritt, während auf der Dordrechter Synode Reformierte gegen Reformierte gestritten haben. Dennoch standen nun Lehrverurteilungen im Raum, so dass es richtig war, dass die Leuenberger Konkordie zur Prädestination Stellung genommen hat. Sie betont den universalen Heilswillen Gottes (vgl. LK 25) und hebt gegenüber der Lehre von der doppelten Prädestination hervor, dass es uns das Christuszeugnis der Schrift verwehrt, »einen ewigen Ratschluß Gottes zur definitiven Verwerfung gewisser Personen oder eines Volkes anzunehmen« (LK 25).
In der Bibel wird von Erwählung gesprochen, ohne dass sogleich eine Symmetrie von Erwählung und Verwerfung unterstellt wird. So impliziert die Erwählung Israels nicht die Verwerfung der Völker, und mit der Erwählung der christlichen Gemeinde ist auch nicht automatisch die Verwerfung aller Nichtchristen ausgesagt. Die Konkordie verankert deshalb die Rede von der Erwählung im solus Christus: Über sie kann »nur im Blick auf die Berufung zum Heil in Christus gesprochen werden« (LK 24). Man kann hier festhalten, dass eine vertiefte Betrachtung der Soteriologie unter Beachtung des biblischen Redens von der Erwählung zu einer von Lutheranern und Reformierten gemeinsam verantworteten Revision der Lehre von der doppelten Prädestination geführt hat. Welche Rolle dabei die Revision der Erwählungslehre durch den reformierten Theologen Karl Barth gespielt hat, der sie bekanntlich als »Summe des Evangeliums«20 reinterpretierte, lässt sich nicht mit Bestimmtheit sagen. Auf jeden Fall dürfte Barths Neuinterpretation das Bewusstsein für »die Realität des universalen Heilswillen Gottes« (LK 25) gestützt haben. Kaum jemals ist vor seinem Neuentwurf von 1942 so klar gesagt worden, dass Gott Menschen erwählt, ohne gleichzeitig Menschen zu verwerfen, weil in der Erwählung Jesu Christi alle Menschen erwählt sind und in dem ihn am Kreuz treffenden Verwerfungsurteil die Verwerfung aller vollstreckt ist.21
Wenn wir die Aussagen zu Christologie und Abendmahlslehre betrachten, dann fallen wiederum markante Lehrfortschritte auf. Sie verdanken sich einem langen, über mehrere Stationen verlaufenden Gesprächsprozess, bei dem das Arnoldshainer Abendmahlsgespräch der Evangelischen Kirche in Deutschland die Schlüsselrolle spielte.22 Der lebendige Jesus Christus ist der Herr, der uns einlädt und sich uns in der Feier des Mahls schenkt. Die Kontroversen über seine Gegenwart konnten in dem Maße überwunden bzw. in ihrem kirchentrennenden Gewicht relativiert werden, indem man es lernte, den zum Mahl einladenden Christus als das handelnde Subjekt der Mahlfeier zu verstehen. Er vergegenwärtigt sich in seiner Person und schenkt sich uns »in seinem für alle dahingegebenen Leib und Blut durch sein verheißendes Wort mit Brot und Wein« (LK 15 und 18). Dieser Sichtweise wurde die Frage nach dem Wie der sakramentalen Vergegenwärtigung Christi bewusst nachgeordnet. Das bedeutet, dass nun die personalen Denkformen bei der Deutung des Mahls die Regie übernehmen. Demgegenüber sind die auf Brot und Wein als Träger oder Zeichen der Christuswirklichkeit fixierten Denkformen in den Hintergrund getreten. Das hat man auf die Formel gebracht: Die Denkformen der Ontologie der Relation haben die Denkformen der Ontologie der Substanz bzw. des Seins oder des Dinges abgelöst.
Allen Beteiligten sei klar gewesen – so der Lutheraner Helmut Gollwitzer in seiner Erläuterung des Abendmahlsgesprächs von Arnoldshain –, dass wir es im Abendmahl »nicht mit einem Etwas, sondern mit ihm selbst zu tun [haben], mit ihm aber in seiner Einheit als dem Irdischen und dem Erhöhten, mit der Frucht seines Sterbens, mit dieser aber dadurch, daß wir seinem Sterben gleichzeitig werden, – mit ihm also in der einmaligen Leibhaftigkeit und Realität seines Sterbens und Auferstehens, durch die sein Wort Gegenwart ist«23. Diese Klärungen verdankten sich intensiver exegetischer Arbeit. Eine an der neueren Schriftexegese geschulte Überprüfung der tradierten Abendmahlslehren führte auf lutherischer und auf reformierter Seite zu Einsichten, die die herkömmliche Auslegung der Einsetzungsworte revolutionierten. Wer wissen möchte, ob und wie exegetische Diskurse die dogmatische Theoriebildung befruchten und verändern, kann dafür in den lutherisch-reformierten Abendmahlsgesprächen ein überzeugendes Paradigma finden.
Die christologischen Annahmen, die in der Vergangenheit häufig zu Gesprächsblockaden geführt hatten, sind mit Hilfe der personal-geschichtlichen Denkkategorien überwunden worden. So hat man erkannt, dass die räumlichen Vorstellungen, mit deren Hilfe man die Erhöhung des auferstandenen Christus zur Rechten Gottes des Vaters gedacht hat, der christologischen Wirklichkeit, um die es hier geht, nicht mehr angemessen sind. Dann aber ließ sich auch die Alternative zwischen der Ubiquität der menschlichen Natur Christi (so Luther) einerseits und der Auffassung, dass er »nach seiner menschlichen Natur jetzt nicht mehr auf der Erde ist«24