(2) Anfechtung als Lebenserfahrung des Glaubens. Diese Formulierung stammt von Carl Heinz Ratschow, der im Gefolge Luthers die Erfahrung der Anfechtung dem christlichen Glauben als Faktor zuordnet, genauer eben der Lebenserfahrung des Glaubens, seiner engen Weltfühlung, seinem Preisgegebensein an das Ungefähr des Lebens. Ratschow rekurriert dafür auf die Gemeinsamkeit der fleischlichen und der geistlichen Anfechtung darin, dass beide jenem Ungefähr der Welt aussetzen und dass darin Gott handelt, seine Barmherzigkeit in Frage stellend. Wenn man nicht wie Ratschow meint, die Angefochtenheit des Glaubens sei als Lebenserfahrung »keine Sache theologischer Erwägungen«68, ist die Fundamentaltheologie der Ort, an dem ein (allgemeiner und christlich gebrauchter) Begriff wie Lebenserfahrung thematisiert wird; W. Härle spricht von der Lebensbewegung des Glaubens. Allerdings bewirkt die Annahme wesentlich unbedingter Gewissheit, dass die gestellte deskriptive Aufgabe fundamentaltheologisch akzidentell wird. Selbstverständlich darf und muss man sagen, dass Glaubensgewissheit actu, d. h. in indexikalischer Ich-Rede, eine unbedingte und eigene Gewissheit ist. Überbestimmt wird der Begriff jedoch, wenn das als wesentlich für Gewissheit gelten soll: Er fungiert dann als normatives Ideal für die christliche Gewissheit, weil er modale oder graduelle Bestimmungen kategorial als Nicht-Gewissheit ausgrenzt. Das aber würde die in der gesamten Lebenserfahrung des Glaubens zu gewärtigende Anfechtung seiner Gewissheit, nämlich den eschatologischen Vorbehalt negieren, der in dieser Weltzeit für den christlichen Glauben konstitutiv ist.69
Freilich bleiben die graduellen Modi der Glaubensgewissheit der Erfahrung äußerlich, in eine Gewissheit hinein versetzt zu werden und in dieser Gewissheit zu fühlen, zu denken und zu wollen; denn dieses Widerfahrnis spannt actu einen eigenstrukturierten Raum auf, der nicht von außen betreten oder wieder betreten werden kann. Doch die Einheit von Passivität und Aktivität in der Person gerade des Glaubenden impliziert, dass das Widerfahrnis völliger Gewissheit in die temporalen und qualitativen Erfahrungskontexte dieser Person eintritt und reflexiv mit Phänomenen der nicht strikt unbedingten und nicht strikt eigenen Gewissheit konfrontiert oder auch korreliert wird. Dies freilich im Bewusstsein, dass der Wechsel von noch so plausibel gebildeter Überzeugung zu jenem Gewisswerden kein kontinuierlicher ist (eine phänomenologische Frage ist dann, ob das als Bekehrung oder Wiedergeburt oder als wiederholte Buße und Rechtfertigung erzählt und erinnert wird). Das hat methodische Entsprechungen, die ein fundamentaltheologisches Thema sind. Weil man jene Versetzung in völlige Gewissheit in gegenständlicher Rede nicht als solche benennen kann, muss zum einen das mystische Schweigen einen beredten Platz in der Beschreibung des Glaubens erhalten, als Anzeige dessen, was sich allgemeiner Zeigbarkeit und Verfügbarkeit entzieht. Zum andern sollte dem konfessorischen und dem narrativen, in jedem Fall interpretierenden Ausdruck dieser Erfahrung fundamentaltheologisch ein wesentlicher Platz gegeben werden. Das (konkrete) Glaubensbekenntnis und die (stets rhapsodische) Selbsterzählung bringen unbedingte Gewissheit insofern zum Ausdruck, als der Ich-Sprecher sie für ihn jetzt und hier (und in der Hoffnung auf zeitliche Dauer) als unhintergehbar markiert. Es versteht sich, dass ein substanzialistisches Verständnis von personaler Identität hier nichts mehr nützt und durch die Beschreibung des »Selbst als ein Anderer« abgelöst werden sollte. Ricœurs Konzept der narrativen Identität70 korrespondiert genauer mit der hermeneutisch reflektierten Phänomenologie der christlichen (Un-)Gewissheit als Subjektivitätstheorien, in denen die Lebensbewegungen und die Lebenswelt des christlichen Glaubens sekundär rangieren.
(3) Glaubensgewissheit als Beziehungsgeschehen. Diese Charakteristik wird von W. Härle prominent formuliert, doch konterkariert durch die Annahme, dass Gewissheit wesentlich eigene Gewissheit ist. Gerade in dieser Hinsicht sind Gewissheit überhaupt und christliche Glaubensgewissheit kategorial verschieden, weil ihr Gegenüber im Falle eines (Ab-)Gottes etwas kategorial anderes ist als der Gott, der sich im Evangelium einem Sünder zuspricht. Deshalb bedeutet eigene Glaubensgewissheit im Falle des christlichen Glaubens nicht dasselbe wie eigene Gewissheit überhaupt. Während Letztere gewöhnlich Identität von Nicht-Identität abgrenzt, ist Erstere konstitutiv mit Nicht-Identität imprägniert, nämlich mit der Alterität des Wortes Gottes. Daher kann man hier nur von relativ eigener, nämlich nur im Rahmen einer für sie konstitutiven Relation existenter Gewissheit sprechen. Sie ist nicht selbstreferentiell, sondern weist von sich weg auf den unbedingt vertrauenswürdig handelnden Gott. Hier und nur hier ist der Ausdruck unbedingt angemessen, während die Exzentrizität des rechtfertigenden Glaubens bedeutet, dass dessen subjektive Gewissheit wesentlich bedingt ist.71 Wenn es richtig ist, dass der Zuspruch Gottes einem Menschen unverfügbar von außerhalb zukommt und zuteil wird, wenn es richtig gesagt ist: »Theologia nostra certa est, quia rapit nos a nobis et ponit nos extra nos«72, dann sollte man die Glaubensgewissheit nur in einem analogen Sinn unbedingt nennen. Dessen Analogans ist die Unbedingtheit des Evangeliums, des Zuspruches Gottes. Der fundamentaltheologische Ort, dies im Blick auf subjektive Gewissheit zu klären, ist daher die Analyse des Begriffs Wort Gottes oder, um positivistische Missverständnisse zu vermeiden, des Begriffs Offenbarung. Hier ist dieser Begriff weniger in seiner Bedeutung als je besonderes oder einzigartiges Wissen, sondern als Modus der Erfahrung, der Erschließung oder des Empfangens thematisch. Hier kann man im eigentlichen Sinn sagen, dass Offenbarung unbedingte Gewissheit ist. Einen gut reformatorisch vom Problem der Autorität ausgehenden Vorschlag dazu hat H. Deuser gemacht.73
Die Frage, ob und wie Glaubensgewissheit unbeschadet ihrer Exteriorität eine je eigene sein kann, wurde in der reformatorischen Konstellation mit dem testimonium Spiritus Sancti internum (Röm 8,14–16) beantwortet. In der gegenwärtigen (westlichen) religionskulturellen Situation kann man diese Antwort auf die christliche Gewissheit beziehen, sofern diese eine eigene im Sinne eines indexikalisch definiten Ich-Sprechers ist. Sie bezeichnet so den subjektiven Ort der Differenz des Grundes des Glaubens vom hörenden Gläubigen. In Verbindung mit dem aus der Rechtssphäre in die religiöse Kommunikation entgrenzten Begriff des Zeugnisses, der neuestens zu einer epistemischen und ethischen Basiskategorie fortgebildet wird,74 stellt die reformatorische Vorstellung daher eine fundamentaltheologische Herausforderung ersten Ranges dar. Innerlich, so könnte man sagen, wird die Differenz von unvertretbarem Selbstsein und iustitia aliena in ihrer Gegenständlichkeit aufgehoben; sie wird neu bestimmt im Medium von Zeichen, die als gegenseitige Anrede eines Du, eben als Zeugnis, kommuniziert werden. Die Differenz wird m. a. W. als Resonanzraum aufgespannt, innerhalb dessen (auch wenn von außerhalb induziert) es zum affektiven und kognitiven Gleichklang der Ausbreitung des Evangeliums in unserem Geist und dessen Gebet zu Gott in der Kraft des Heiligen Geistes kommt. Gesetzliche, z. B. kausale Alterität wird hier umso weniger erneuert, als die Stellvertretung, die der Heilige Geist für unser Beten übernehmen kann, subjektive Authentizität nicht mindert; hier tritt Gewissheit schlechthin ein.75 Die fundamentaltheologische Platzierung des dogmatischen Begriffs der Geistesgegenwart76 erlaubt und erfordert die Analyse der Semiosen, in deren Medium sich dann die christliche Gewissheit gegenüber anderen Phänomenen von Gewissheit kontrastiert und als Gegenwart des Heiligen Geistes wahrnimmt.