So lange das theologische Denken mit Raum- und Substanzvorstellungen arbeitete, konnte die Gegenwart Christi im Abendmahl kaum anders ausgesagt werden als in den Kategorien einer in Brot und Wein zu lokalisierenden Realpräsenz einerseits und in einer die himmlischen Materien geistlich vergegenwärtigenden Spiritualpräsenz andererseits. Das eucharistische Denken war an solche Denkmodelle gebunden, zu denen dann ja noch die Denkmodelle der Transsubstantiation einerseits und der anamnetischen Vergegenwärtigung andererseits hinzukamen. Immer ging es darum, so genau wie nur möglich die besondere Anwesenheit des Gekreuzigten und Auferstandenen im Vollzug des Mahls zu bestimmen. Aus diesem Grund sind die damaligen Verwerfungsurteile nicht einfach falsch gewesen und können retrospektiv »nicht als unsachgemäß bezeichnet werden« (LK 27). Sie sind aber heute »kein Hindernis mehr für die Kirchengemeinschaft« (ebd.), weil man die Abendmahlslehre gemeinsam weiterentwickeln konnte und nun zu einer Auffassung gelangt ist, in der die Verwerfungen von damals den heute in den Kirchen erreichten Stand der Lehre nicht mehr treffen (vgl. LK 26).
Das bedeutet: Die an Gemeinschaftsbeziehungen und nicht Materien orientierten personalen Denkformen der Abendmahlsauffassung der Leuenberger Konkordie lassen die klassische innerevangelische Kontroverse um Realpräsenz oder Spiritualpräsenz hinter sich, indem von der Person des sich in der ganzen Mahlfeier in bestimmter Weise, nämlich im Akt des Essens und Trinkens, vergegenwärtigenden Jesus Christus ausgegangen werden kann. Er ist in der ganzen Mahlfeier präsent – nicht nur in Brot und Wein, aber doch gebunden an ihren Verzehr (vgl. LK 19). Die Wahrheitsmomente der Realpräsenz und der Spiritualpräsenz gehen in der Personalpräsenz des Gekreuzigten und Auferstandenen auf. Das ist ein ganz beachtlicher Erkenntnisfortschritt, bei dem wir nicht nur besser verstehen, was im Abendmahl vor sich geht, sondern auch wieder näher bei der Deutung der Mahlfeiern in der neutestamentlichen Überlieferung sind.
Die Leuenberger Konkordie »läßt die verpflichtende Geltung der Bekenntnisse in den beteiligten Kirchen bestehen. Sie versteht sich nicht als ein neues Bekenntnis. Sie stellt eine im Zentralen gewonnene Übereinstimmung dar, die Kirchengemeinschaft zwischen Kirchen verschiedenen Bekenntnisstandes ermöglicht« (LK 37). Aber: Diese »im Zentralen gewonnene Übereinstimmung« bewegt sich lehr- und erkenntnismäßig auf einer Ebene, auf der gemeinsam Aussagen getroffen werden, die über die Aussagen der bisherigen Bekenntnisse hinausgehen und im gemeinsamen Hören auf die Schrift die kirchliche Lehre weiterentwickeln. Aus diesem Grund kann man sich nicht einfach auf die in den klassischen Bekenntnistexten eingenommenen Lehrpositionen zurückziehen. Man soll sie im Licht einer überkonfessionell betriebenen Lehrentwicklung spiegeln und so als Stationen eines Erkenntnisprozesses würdigen, der für neue Einsichten offen ist.
Man kann also nicht so tun, als seien die Reformierten bei ihren charakteristischen Lehrpositionen des 16. Jahrhunderts stehengeblieben. Wer an der durch die Leuenberger Konkordie begründeten Kirchengemeinschaft teilhat, wird die in ihr getroffenen Aussagen nicht übergehen und bei der Auslegung des Heidelberger Katechismus und anderer Bekenntnistexte nicht einfach auf den dort zu den Sakramenten, zur Christologie und zur Prädestinationslehre bezogenen Positionen beharren können. Das geschieht leider viel zu oft. Die Folge sind Ungleichzeitigkeiten in der Wahrnehmung dessen, was als reformiert zu betrachten ist. Gerade auf den Spuren Calvins, der immer wieder eine bestimmte Annäherung an die Abendmahlsauffassung der Lutheraner gesucht und verteidigt hat, wird man die Aussagen der maßgeblichen Bekenntnistexte des 16. und frühen 17. Jahrhunderts nicht zementieren. Wer das dennoch tut, wird den mit der Konkordie erreichten, gemeinsam gewonnenen Erkenntnisfortschritt ausschließlich am Wortlaut der Bekenntnistexte des 16. Jahrhunderts messen und eine Haltung an den Tag legen, die man – leider – als Bekenntnisfundamentalismus charakterisieren muss.
V.IMPULSE FÜR DEN HEUTIGEN THEOLOGISCHEN DISKURS
Es ist hier nicht der Ort, die Leistungen der reformierten Theologie in der Theologieschichte des 20. Jahrhunderts im Detail zu würdigen. Allgemein lässt sich sagen, dass die deutschsprachige reformierte Dogmatik zeitweise Weltgeltung erlangte. Das war im Wesentlichen drei Autoren zu verdanken, darunter gleich zwei Schweizern: Karl Barth, Emil Brunner und Jürgen Moltmann. Barth repräsentierte mit seinem Werk die einflussreichste Aufbruchs- und Erneuerungsbewegung der evangelischen Theologie seit Schleiermacher. Immer wieder gab er die Themen vor, die bis zum Ende der sechziger Jahre des vorigen Jahrhunderts die theologische Diskussion beherrschten. In Barths Kirchlicher Dogmatik vollzog sich ein fulminanter Umbau des protestantischen Lehrgebäudes, bei dem auch die herkömmlichen reformierten Spezifika wie die Christologie, die Erwählungslehre und die Sakramentslehre umfassend revolutioniert wurden. Bemerkenswert sind die Wirkungen, die Barth bei einigen lutherischen Theologen und bis weit in die katholische Theologie hinein erzielte.
Emil Brunner steht im Schatten Barths und scheint zunehmend in Vergessenheit geraten zu sein. Aber das ändert nichts an seiner Bedeutung. Wie Barth begründete Brunner die Theologie auf die Anrede Gottes an den Menschen, wollte aber der dialogischen Situation zwischen dem christlichen Glauben und dem neuzeitlichen Menschen anders und – wie er meinte – genauer Rechnung tragen. So hatte er eine Vorliebe für Fragestellungen, die er bei Barth nicht angemessen beachtet fand, und entwickelte damit so etwas wie eine Korrektivfunktion gegenüber den theologischen Lösungen Barths. Da er leichter zu verstehen war als Barth, fanden seine Arbeiten im angelsächsischen Bereich so viel Resonanz, dass er dort als der eigentliche Prototyp der dialektischen Theologie wahrgenommen wurde. Wesentliche Einsichten der dialektischen Theologie sind über Emil Brunner an die internationale Theologenszene vermittelt worden.
Jürgen Moltmann dürfte weltweit der meistgelesene evangelische Systematiker der letzten Generation sein. Einige seiner Bücher – vor allem die »Theologie der Hoffnung« (1964)25 und die »Ökologische Schöpfungslehre« (1985)26 – haben die Debatten in Theologie und Kirche regelrecht vorangetrieben. Sein Schreibstil führte aus der strengen Theoriesprache der Dogmatik hinaus und erleichterte eine breite Rezeption. Moltmann besitzt ein ausgeprägtes Gespür für die akuten Herausforderungen in Kirche und Gesellschaft und sucht die lebensverändernden Energien des Glaubens in den Leidensgeschichten dieser Welt zur Sprache zu bringen. Sein Einfluss auf das allgemeine Problembewusstsein einer bestimmten kirchlichen Öffentlichkeit ist freilich wesentlich stärker als seine Wirkungen auf die forschungsbasierte Theoriebildung im Fach.
In der Geschichte der evangelischen Theologie im 20. Jahrhundert hat die reformierte Theologie eine exponierte Rolle gespielt. Woran lag das? Waren es eher die äußeren Umstände, vielleicht auch ein wenig Providenz, die zu diesem Befund führten? War es das glückliche Zusammentreffen einer besonderen Begabung und eines für einen Paradigmenwechsel reifen Kairos? Oder kann man auch von einer der reformierten Theologie innewohnenden Tendenz zur Innovation, zur Überwindung erstarrter Theorieschemata sprechen, die sie unter bestimmten Bedingungen dazu disponiert, Initiativen zu ergreifen, wo andere abwarten, und beherzt auf neue Fragestellungen zuzugehen, wo andere zur Lösung theologischer Probleme lieber auf bewährte Theorieschemata und Erklärungsmuster zurückgreifen?
Barth hat mit einer häufig von ihm benutzten und so berühmt gewordenen Wendung davon gesprochen, dass die Theologie immer wieder neu mit dem Anfang anzufangen habe.27 Das ist ein Anstoß zur Neubesinnung und zum Stellen neuer Fragen und nicht das Fortschreiben von Überlieferungen. Er habe Theologie immer als »Entdeckungsreise«, nie als Verteidigung von alten Lehren oder kirchlichen Dogmen betrieben, erläuterte Jürgen Moltmann, um dann seinen Denkstil als experimentell zu charakterisieren – »ein Abenteuer der Ideen« – und für