Bei diesem hartnäckigen Insistieren auf sozialer Gerechtigkeit sind alle Formen theologischer Arbeit, die sich nicht unmittelbar der an der Not der Armen orientierten Reflexion sozialer Kontexte und der Überwindung sozialer Schieflagen verpflichtet wissen, in Verruf gekommen. Davon ist auch die Arbeit der wissenschaftlichen Theologie betroffen, wie sie an den Universitäten der nördlichen Hemisphäre betrieben wird. Sie steht bei vielen reformierten Kirchenleuten des Südens unter dem Verdacht, ein bürgerlicher Luxus zu sein, wenn sie nicht gleich als intellektuelles Herrschaftsinstrument zur Ablenkung von den wirklichen Weltproblemen eingestuft wird. Mit vergleichbaren Problemgefällen von Nord nach Süd haben sich auch andere Kirchen auseinanderzusetzen. Aber bei den Reformierten sind sie besonders heftig in Erscheinung getreten, was nicht zuletzt auch mit einem starken sozialethischen Interesse reformierter Theologie zusammenhängt. Erst in den letzten Jahren ist wieder das Bewusstsein für die Bedeutung theologischer Arbeit gewachsen. So hat man eingesehen, dass ökumenische Fortschritte nur durch geduldige theologische Studienarbeit erreichbar sind.
II.PLURALITÄT IHRER BEKENNTNISBESTIMMTHEIT
Reformierte Theologie ist also konfessionsbestimmte Theologie. Von Ausnahmen abgesehen – eine solche Ausnahme sind seit Mitte des 19. Jahrhunderts die reformierten Kantonskirchen der Schweiz – konstituiert sich die konfessionsbestimmende Identität reformierter Kirchen über ein oder über mehrere bestimmte Bekenntnisse, die in der jeweiligen Kirche in Geltung stehen. Dabei waltet die Vielfalt. Im Unterschied zu den lutherischen Kirchen kennen reformierte Kirchen keinen abgegrenzten und abgeschlossenen Bekenntniskanon. In besonderem Ansehen steht weltweit der Heidelberger Katechismus, aber das schließt ein, dass sich die einzelne reformierte Kirche auf ein besonderes Bekenntnis bezieht, das zumeist mit ihrer Entstehung oder doch der Überwindung einer kirchlichen Konfliktsituation ihrer Geschichte verbunden ist. Da sich das Bekennen nicht in der rezitierenden Vergegenwärtigung historischer Bekenntnisaussagen erschöpft, können auch Texte, die dem aktuellen Bekennen entspringen, den Charakter eines kirchlich rezipierten Bekenntnisses annehmen. Das gilt auf jeden Fall für die Barmer Theologische Erklärung von 1934 und in wachsendem Maße für das Bekenntnis von Belhar (1986), das der Barmer Theologischen Erklärung nachempfunden ist und die Einsichten von Barmen im Blick auf die Apartheidpolitik in Südafrika fortgeschrieben hat.
Die Bekenntnispluralität der reformierten Kirchen steht in einem bestimmen Verhältnis zu den Theologen, denen sie ihre entscheidende Prägung zu verdanken haben. Reformierte Kirchen im Horizont der Reformation Huldrych Zwinglis unterscheiden sich von denjenigen im Horizont der Wirkungen Johannes Calvins. Wer durch die Schweiz reist und nacheinander Gottesdienste in Zürich, Basel, Neuchâtel und Genf besucht, spürt das auf überschaubarem Raum. Zum eigentlichen theologischen Lehrer der reformierten Kirchen wurde Calvin, so dass man den Zwinglianismus als ein helvetisches, den Calvinismus hingegen als ein globales Phänomen bezeichnen kann. Wir müssen auf jeden Fall den Kirchentypus mit Zwinglianischer Prägung von demjenigen mit Calvinscher Prägung unterscheiden. Das unlängst erschienene »Cambridge Companion to Reformed Theology«3 führt als weiteren reformierten Klassiker Jonathan Edwards4 auf. In der Tat ist das amerikanische Reformiertentum ohne diesen großen Prediger und Theologen der Erweckung kaum zu denken.
Die Frage, welchem Typus die reformierten Kirchen und Gemeinden in Deutschland zuzuordnen sind, ist nicht leicht zu beantworten. Auf jeden Fall konnte hier der Zwinglianismus kaum Fuß fassen. Auch die Charakterisierung der deutschen Reformierten als Calvinisten ist schwierig; sie würde eigentlich nur für diejenigen Gemeinden zutreffen, in denen die »Confession de foi« in Geltung stand oder steht – also für die französisch-reformierten Gemeinden, die sich mit der Einwanderung der Hugenotten nach der Aufhebung des Ediktes von Nantes bildeten. Man könnte bei den Reformierten in Deutschland vielleicht von einem Calvinismus à la Heidelberg sprechen, da sie durch die Schule des Heidelberger Katechismus gegangen sind, in der ihnen die Lehre von der doppelten Prädestination in äußerst abgemilderter Form beigebracht worden ist und auch die Ekklesiologie samt der disciplina ecclesiastica nicht sehr auffällig ist. Wenn man bedenkt, dass mit Zacharias Ursinus, einem der maßgeblichen Verfasser des Heidelberger Katechismus, manche Motive der Theologie Melanchthons in den Katechismus einfließen konnten, wäre auch die Rede von einem melanchthonisch bestimmten Typus des deutschen Reformiertentums möglich. Dann würde man sich der Lesart des nordhessischen Theologen Heinrich Heppe annähern, den Mitte des 19. Jahrhunderts die Pluralität reformatorischer Theologie und Frömmigkeit vor ihrem Eintritt in die Blockbildungen des konfessionellen Zeitalters beschäftigt hatte. Heppe stellte die These von einer eigenständigen, von Melanchthon geprägten deutsch-reformierten Kirche auf, die sich erst im Zuge der mit der Konkordienformel vollzogenen lutherischen Abgrenzungen dem calvinistisch-reformierten Konfessionstyp angenähert habe.5 Für die Zukunft versprach sich Heppe von der Wiederbelebung jenes ursprünglich melanchthonischen evangelischen Protestantismus einen aussichtsreichen Weg zur Union von Reformierten und Lutheranern.
Dort, wo reformierte Theologie als Lehrfach angeboten wird, werden auf jeden Fall die Bekenntnisentwicklungen der reformierten Kirchen und die Theologie des Heidelberger Katechismus behandelt. Eine Beschäftigung mit Zwingli ist wegen seiner Bedeutung für die alternative Entwicklung der reformatorischen Abendmahlslehre wichtig. Calvin und seinem Werk – das heißt seiner Theologie und seiner Konzeptionen für Kirchenrecht und -ordnung – gebührt die Rolle eines profilbildenden Schwerpunkts.
III.REFORMIERTE AKZENTE
Reformierte Theologie ist evangelische Theologie. Die Verbundenheit mit den anderen aus der Reformation hervorgegangenen Kirchen und Theologien darf man nicht übersehen, wenn man nach den prägenden Besonderheiten der reformierten Kirchen und Theologien fragt. Ein auf Abgrenzung und Überbietung bedachter Konfessionalismus widerspricht der reformierten Auffassung von der Einheit der Kirche. Vor der Frage nach den spezifisch reformierten Akzentsetzungen hat immer zuerst die Frage nach dem gemeinsam Evangelischen zu stehen. Das Ergebnis lässt sich in summa so rekapitulieren:
Alle reformatorischen Kirchen wollten bewusst Kirchen des verkündigten Wortes sein und standen mehr oder minder kritisch zu den Vorgaben kirchlicher Tradition. Alle lehnten mehr oder minder deutlich die Hierarchie als kirchliches Gestaltungsprinzip ab und schätzten, jedenfalls verbal, das allgemeine Priestertum aller getauften Glaubenden. Alle fühlten sich dem befreienden Evangelium der Rechtfertigungsbotschaft verpflichtet und wussten, dass auch die Kirche irren kann und in gleicher Weise von der Vergebung lebt wie die, denen sie Vergebung zuspricht. In der hohen Wertschätzung des solus Christus, sola fide, sola gratia und sola scriptura gab und gibt es zwischen Reformierten und Luheranern keinen kirchentrennenden Dissens. Dieser brach erst – man denke an die Artikel des Marburger Religionsgesprächs von 1529 –6 in der Abendmahlsfrage auf.
Gleichwohl sind die unterschiedlichen Akzente im gemeinsamen Verständnis des Reformatorischen nicht zu übersehen. Der besondere reformierte Akzent besteht zweifellos darin, dass die reformierten Kirchen noch konsequenter als ihre lutherischen Geschwister Kirchen der Reformation sein wollten. Rein