Die Ermittlung des Wesens des christlichen Glaubens bedient sich oft phänomenologischer Sprache, doch zielt sie deutlich auf mehr als eine Phänomenologie subjektiver Ich-Erfahrung, ihrer leib-seelischen Strukturen und ihrer situativ bedingten Wirklichkeit.53 Denn Wesen stellt das Allgemeine von Glauben fest, das Unveränderliche und Unverzichtbare auch am christlichen Glauben, »was angesichts des allgegenwärtigen geschichtlichen Wandels im Christentum bleibenden Charakter hat und verläßliche Orientierung ermöglicht«54. Dass ein Allgemeines verlässliche christliche Orientierung im Wandel geben kann, beruht darauf, dass jeder Mensch an Glauben teilhat. Der Glaube, ebenfalls als Gattungsbegriff verstanden (glauben kommt nur am Rande vor), wird eingeführt mit Luthers Benennung dessen, woran man sein Herz hängt und auf was man sein Vertrauen setzt, als Gott resp. Abgott. Eine soteriologisch besonders gut anschlussfähige Formulierung der allgemeinmenschlichen Gottesbeziehung ist also die Basis für eine Bestimmung des Begriffs Gewissheit, die dann den Rahmen der Rede von christlicher Gewissheit bildet. Gewissheit ist wesentlich »das grundlegende, daseinsbestimmende Vertrauen oder Sich-Verlassen auf ein Gegenüber«, entsprechend das Sich-bestimmen-Lassen durch seinen Gott (höchstes Gut, absolute Autorität). So ist Gewissheit wesentlich »unbedingtes Vertrauen« und »eigene Gewißheit«55.
Was der Autor die kategoriale Unterscheidung des Wesens von den Erscheinungen nennt und als Begriffsklärung vorführt, ergibt m. E. den transzendentalen Status von Glaube und Gewissheit. Entsprechendes wird später, ausgehend u. a. wieder von Luther, im Blick auf die Erkenntnis Gottes und der Welt auch festgestellt (nicht im Blick auf die Seele!).56 Diese Begriffe stellen das Besondere unter die Regie des Allgemeinen: Ausdrücklich wird auch faktisch minderer und angefochtener Glaube, den die Bibel oft anspreche (!), als unbedingter bezeichnet, »weil [nicht: insofern] er sich auf die Macht richtet, von der es abhängt, ob die Bestimmung des menschlichen Lebens erreicht oder verfehlt wird.« Dass der Glaube eine verletzliche Wirklichkeit hat, ungesichert und enttäuschbar und vom Zweifel begleitet wird, resultiert (!) aus seinem Wesen als Vertrauen, als Angewiesensein (!) auf Gewissheit und aus seiner Ausrichtung auf Gott in der Torheit des Kreuzes.57 Der zitierte Satz: »Glaube, der auf Gewißheit gründet, ist angefochtener Glaube« ist kein echt paradoxer. Er bezieht sich auf die »Lebensbewegung«, die jener daseinsbestimmenden »Handlungs- und Verhalensdisposition« Gestalt gibt. Sie, nicht schon diese unbedingte Disposition, nimmt das Gebrochene der christlichen Existenz, das aus dem »bloß bruchstückhaften Vertrauen auf Gott« resultiert, ins (allgemeine?!) Vertrauen auf Gott hinein, in »getroster Verzweiflung«.58 Luthers echt paradoxe Wendung steht dem transzendentalen Begriff einer unbedingten Gewissheit recht fern, der die Anfechtungen des Glaubens in seinem Wesentlichen domestiziert.
Es ist freilich nicht die Absicht des Autors, auch den christlichen Glauben transzendental zu reduzieren oder als ontologische bzw. anthropologische Konstante zu identifizieren. Dieser ist eine geschichtliche Wirklichkeit, dessen Konstitutionsbedingungen in der phänomenalen Welt liegen, und als ein »bestimmtes, besonderes Beziehungsgeschehen«59 kommt er erst durch eigene Erfahrung und persönliche Begegnung in den Blick. Er lässt sich allerdings vorweg anthropologisch situieren: Er hat »unmittelbar den Charakter des Sich-bestimmt- Fühlens, mittelbar den Charakter des Sich-bestimmt-Wissens und des Sich-bestimmen-Lassens«. Seine Gewissheit besteht darin, dass das unmittelbare, im Lebensgefühl sich meldende Berührtwerden und Bestimmtsein auch im Bewusstsein erschlossen wird: als unbedingte Vertrauenswürdigkeit dessen, was einen persönlich und unverfügbar ab extra berührt und bestimmt. Beim Evangelium ist dies »die Gewißheit der Vertrauenswürdigkeit dieses Wortes und dieses Gottes«60. Diese Gewissheit ist, wie im Kontext der Pneumatologie ausgeführt wird, geistwirkt und als solche wiederum die Voraussetzung und Bedingung des christlichen Glaubens und seiner Wahrheitsgewissheit. Es ist schon kritisiert worden, dass W. Härle religiöse Offenbarung, verstanden als Erschließungsgeschehen mit der Wirkung (!) einer daseinsbestimmenden Gewissheit oder Erkenntnis, eine notwendige, nicht aber die hinreichende Bedingung für fiduzialen Glauben darstellt; das gilt auch für die Offenbarung in Jesus Christus.61
V.UNHINTERGEHBARKEIT UND ANGEFOCHTENHEIT DER GLAUBENSGEWISSHEIT
Die folgenden Überlegungen pointieren die vorgebrachte Kritik und stellen die Idee einer phänomenologischen und semiotischen Revision der fundamentaltheologischen Aufgabe zur Diskussion. Die in gewisser Weise kontinuierlichen, in der Ich-Perspektive jedoch zugleich diskrepanten Erfahrungen, die Christenmenschen mit der (Un-)Gewissheit ihres Glaubens machen, stellen eine Aufgabe, die in der angesprochenen Fundamentaltheologie nicht voll überzeugend gelöst ist. Ihre Lösung würde die erfahrungstheologische Konstellation des Gewissheitsthemas und die nötige Transformation der reformatorischen sapientia experimentalis in der jetzigen religionskulturellen Situation überzeugender begründen.
(1) Gewissheit als fundamentaltheologischer Begriff. Gegenüber den reformatorischen und nachreformatorischen Konstellationen, in denen Gewissheit als affektive und kognitive Eigentümlichkeit des rechtfertigenden Glaubens thematisch war, bewegt sich die aktuelle Thematisierung zu Recht in einem fundamentaltheologischen Kontext. Das ist unvermeidlich, weil die vom Heilsglauben unterschiedenen Aspekte von Gewissheit seinerzeit in Diskursen wie der Lehre von der Heiligen Schrift und der philosophischen Theologie beheimatet waren, diese Diskurse jedoch (zumindest) nicht mehr so wie seinerzeit geführt und beansprucht werden können. Die soteriologische Symmetrie von certitudo und fiducia ist nach wie vor ein Proprium jedweder reformatorischen Theologie; aber es müsste genauer bestimmt werden, wessen diese Gewissheit gewiss ist. Zu den affektiven und kognitiven Phänomenen, die analog dazu als Gewissheit firmieren (können), muss sie jetzt ganz ausdrücklich in Beziehung gesetzt werden. Dies auf dem Wege der ontotheologischen62 Ausweitung des univoken Begriffs zu versuchen, läuft jedoch Gefahr, die Differenz zwischen diesem und dem analogen Begriff zu unterlaufen. Die wesentliche Gewissheit wird indifferent gegen die zeitlich und situativ definiten Erfahrungen, die in der Ich-Perspektive jetzt unhintergehbare Gewissheit sein mögen, später aber angefochtene oder bedrohte, unsicher werdende und vage oder bloß mitgeführte oder noch erinnerte Gewissheit sind. Die dramatischen Aspekte des christlichen Glaubenslebens zu harmonisieren in einem gleichbleibenden Lebensgefühl, im »affektiven Grundakkord, der das Leben bestimmt [!] und begleitet«63, modifiziert allerdings auch den soteriologischen Gewissheitsbegriff nicht unerheblich.
Deshalb ist es m. E. geraten, die fundamentaltheologische Klärung von Gewissheit nicht mit den an ihrem Ort notwendigen transzendentaltheologischen Bestimmung des subjektiven Ortes von Gewissheit zu koppeln, sondern in eine Phänomenologie von Glaubensgewissheit zu investieren, wie sie in Ausarbeitung von Maurice Merleau-Pontys Phänomenologie der leibvermittelten Wahrnehmung heutzutage möglich ist, die sich aber auch gut an Charles S. Peirce‘ Religionsphilosophie anschließen lässt.64 So wird nicht zuletzt verhindert, dass die (wünschbare) maximale Glaubensgewissheit dazu verleitet, deren Bestimmtheit normativ zu setzen und Phänomene aus dem Blick zu verlieren, in denen z. B. das Erleben von Musik eine geringere inhaltliche Bestimmtheit des Glaubens affektiv auszugleichen vermögen. Ohnedies muss sprachkritisch geklärt werden, wann die Ausdrücke gewiss sein, wissen, glauben, zweifeln usw. gebraucht werden, von welchen Personen,