Ein solcher Einspruch macht (mindestens) auf das Dilemma aufmerksam, das die aktuelle Thematisierung von Gewissheit aufwirft: zwischen der allgemeinen Erfahrung mangelnder Gewissheit und der Annahme allgemeiner unbedingter Gewissheit. Da jene unbestreitbar ist, muss man fragen, ob Letztere begründbar ist bzw. was unbedingt hier bedeutet. An zwei älteren erfahrungstheologischen Konzeptionen lässt sich beobachten, dass die Annahme unbedingter Gewissheit sich in schwierige Begründungsprobleme verwickelt.
III.ZUR GENEALOGIE DER AKTUELLEN PROBLEMLAGE
Es wäre interessant, den um 1900 heftig geführten Weltanschauungskampf einzubeziehen, weil das Auslaufen der theologisch adaptierten idealistischen Metaphysik eher selten zu skeptischer Epoché motivierte (wie in der entstehenden Religionspsychologie) als vielmehr zu bekennerfreudigen Begründungen unbedingter Gewissheit in einer zentralperspektivisch angelegten, epistemologisch aber weitgehend immunisierten Weltanschauung. Allerdings ist dieser theologisch oft diffuse Diskurs noch immer sehr unübersichtlich, speziell in der nun häufigen Bezugnahme auf F. Schleiermacher.24 Das ist anders und klarer bei Karl Heim, durchaus engagierter Teilnehmer des Weltanschauungskampfes, besonders im Blick auf die epistemischen Probleme der sich verändernden Naturwissenschaften, zugleich aber ambitionierter Analytiker der theologischen Epistemologie; hielt er doch die Begründung der Möglichkeit von Glaubensgewissheit für die aktuelle »Lebensfrage der Religion«25.
Heims weit ausgreifende Untersuchung des Gewissheitsproblems seit der Scholastik des 13. Jahrhunderts (eigentlich seit Augustin) bis zu Schleiermacher (1911) zeigte ihm, dass weder eine subjektivistische noch eine objektivistische Setzung von Glaubensgewissheit plausibel sein konnte, sondern erst eine erkenntnistheoretische Klärung der Beziehung zwischen Autoritätsglauben und mystisch unmittelbarem Vertrauensglauben. Diese Beziehung, so sagt Heim mit Ernst Troeltschs Analyse des altprotestantischen testimonium Spiritus Sancti internum, war stets der Kern des Gewissheitsproblems. Heim identifiziert vier Möglichkeiten bzw. (logisch) einander folgende Stadien der Koordination des apriorischen und des historisch-empirischen Gewissheitsfundaments des Glaubens. Als reifstes Stadium beurteilt er die von Luther ausgebildete paradoxe Position, in der evidente Denknotwendigkeit und Glaube an eine inevidente Offenbarung zugleich einander entgegen und in eins gesetzt werden.26
Am Anfang des Denkprozesses sieht Heim die unbewusst doppeldeutige Formulierung, die einen an sich selbstdestruktiven Antagonismus in kontinuierliche Reihen einzeichnet, so dass »von der einen Seite her gesehen das historische Fundament des Kirchenglaubens [ Jesus Christus] als symbolische Darstellung jener apriorischen Gewißheit, von der andern Seite gesehen aber diese apriorische Gewißheit nur wie eine aus dem historischen Gewißheitsfundament abgeleitete Abstraktion erscheint«27. Diese Lösung schreibt Heim der subkutanen Wirksamkeit der neuplatonischen Spekulation seit dem frühen Augustin zu; gemeint ist aber vor allem Schleiermacher, der nach der rationalistischen Scheinlösung hier wieder ansetze. Heims Votum für Luthers Lösung macht allerdings einen zweifelhaften Eindruck, weil er Luthers Paradoxie, deren Akzeptanz ja nicht ablösbar ist vom konkreten Glaubensakt, seinerseits generalisiert. Nicht nur, dass er sie auch eine Synthese nennt; er selber will die Alternative, die Gewissheitsfrage entweder spekulativ oder autoritätsgläubig zu entscheiden, überwinden aufgrund der »als notwendig [!] erkannte[n] Antinomie zwischen Denknotwendigkeit und Autoritätsglauben im höchsten Sinn des Wortes«28. Heim hält fest, dass Glaubensgewissheit immer auf nichtgegenständlichen und unmittelbar evozierten Vertrauensurteilen beruht, doch er gibt diesen Urteilen, in Auseinandersetzung mit Edmund Husserls Phänomenologie, wiederum einen transzendentaltheologischen Rang. Man kann bezweifeln, ob die hier ansetzende Apologetik, die christliche Glaubensgewissheit als verträglich mit der wissenschaftlichen Wahrheitsgewissheit erweisen will, ihr Ziel erreicht.29
Ein zweites Beispiel für die Problematik des Versuches, Glaubensgewissheit in den Horizont von möglicher Gewissheit überhaupt zu platzieren, ist die Erlanger Erfahrungstheologie, hier in ihrer (dem Selbstverständnis nach) radikalsten Form: Franz Hermann Reinhold Franks System der christlichen Gewissheit (1870). Frank ist überzeugt, dass mit der Reformation eine Periode des Subjektivismus begonnen habe und dass bei der Selbstvergewisserung des Glaubens, auch wenn objektive Faktoren in den Vordergrund geschoben wurden, der subjektive Faktor der entscheidende war. »Ueberall wo Gewissheit sich findet, es sei auf welchem Gebiete es wolle, kann sie nicht anders zu Stande kommen, als durch subjective Vermittlung. Die Nötigung, eine Realität als solche anzuerkennen, […] fordert ein Urtheil des Subjectes und ist […] letztlich durch Selbstentscheidung des Subjects bedingt.«30 Dieser an Schleiermacher anknüpfende Ansatz wird aber zugleich gegen diesen gewandt, denn Frank platziert die zentrale christliche, ihrer Form nach sittliche Gewissheit nicht im Kontext von Religion überhaupt, sondern exklusiv in der Erfahrung der Konstitution eines neuen Ich kraft Wiedergeburt und Bekehrung. Frank zielt nur selbstvergewissernd auf die Einsicht in diesen Tatbestand, d. h. in den Besitz an Gewissheit, die dem wiedergeborenen Christen als Glied der Gemeinde innewohnt. Sieht man vom zeittypischen Besitz ab, ist die Nähe zur Rede von der »rein tatsächlichen Gewißheit […] als einer vollkommen innerlichen Tatsache«31 deutlich. Aber Frank will durchaus keine Apologetik und spekulative Religionsphilosophie etablieren, sondern eine strikt systematisch-theologische Disziplin, die dem System der christlichen Wahrheit und dem der christlichen Sittlichkeit korreliert.32
Nichtsdestoweniger setzt Frank ein mit dem Wesen der Gewissheit im Allgemeinen, die als »Zustand subjectiven Versichertseins« dem christlichen und dem natürlichen Bewusstsein als vorreflexives Innewerden gemeinsam sei. Ihre materielle Differenz wird begründet durch die persönliche Erfahrung von Wiedergeburt und Bekehrung; ihr prinzipieller Gegensatz liegt in der Inkongruenz der natürlichen Erfahrung und Erkenntnis mit den geistlichen Realitäten. Verschärft wird diese Inkongruenz dadurch, dass von der christlichen Wahrheit Impulse auf das natürliche Subjekt ausgehen, die geeignet sind, »den [diesem] bereits innewohnenden sittlichen Widerstreit zu einem Entscheidungskampf zwischen dem werdenden neuen und dem alten Ich selbst umzugestalten.«33 Franks Konzeption will gerade die Veränderlichkeit jenes Besitzes zum Guten wie zum Schlechten zur Geltung bringen: Christliche Gewissheit erwächst aus jenem anfänglichen bloßen Besitz in einem Prozess der Angleichung von Subjekt und Objekt der Erfahrung. Das innere Zeugnis des Heiligen Geistes ist dabei nicht das erst- oder letztinstanzliche Zeugnis (mit David Friedrich Strauß), sondern kommt zum Zeugnis unser selbst hinzu und begleitet es. Die Ungewissheit auch des Christen ist bedingt durch die Hemmung und Störung jener Angleichung, nämlich »jenes sittlichen Lebensprocesses, durch welchen stetig die Setzung des neuen Ich sich vollzieht«34.
Frank zielt hier auf das, was er selbst »Phänomenologie der Gewissheit« nannte.35 Aber deren Gegenstand ist