Franks Schüler tadelten weniger den epistemologischen Fehler als den Ausgang von der schieren Tatsache christlicher Gewissheit und ihrer Zuständlichkeit als Erfahrungs- und Wahrheitsbesitz des Wiedergeborenen.39 Ihre Erfahrungstheologie, die im Unterschied zu Frank sich auf den Glauben Luthers bezog, ging nicht mehr von der Reflexivität des neuen Ich aus, sondern von seiner Intentionalität, d. h. von der Gewissheit des religiösen Erlebnisses der Gemeinschaft mit Gott.40 Daher lautete ihre Antwort auf die Frage nach dem Grund der Glaubensgewissheit: Der Heilige Geist öffnet das Herz für die Verkündigung des Evangeliums in der Situation der Verfehlung der Bestimmung zu jener Gemeinschaft.41
IV.DIE ERBLAST DER NEUZEITLICHEN THEORIE DER GEWISSHEIT
Das Scheitern der beiden referierten Versuche, des einen gegen Schleiermacher auf Luther rekurrierenden, und des anderen, mit dem Gewissheitsbegriff Schleiermachers gegen dessen Frömmigkeitsbegriff auftretenden, steht in einem Erbe, das beide nicht ernst genug nahmen, vielleicht weil Schleiermachers kritische Arbeit daran es hinreichend bewältigt zu haben schien: im Erbe der Erfahrungstheologie des 18. Jahrhunderts und ihrer neuen Begründung der Glaubensgewissheit. Die Orthodoxie hatte die Gnadengewissheit zur Erwählungsgewissheit, der Pietismus zur Wiedergeburtsgewissheit fortgeschrieben; das auch hier noch unterstellte testimonium Spiritus Sancti internum wird aufklärerisch in die Authentizität individueller religiöser Erfahrung transformiert und in den Horizont eines anthropologisch universalen Begriffs von Religion gerückt. Das setzte Religionsphilosophie voraus (und begründete sie sogar mit), die den Plausibilitätsraum aufspannte, der für die Kommunikation zwischen den Partizipanten der nunmehr als unterschiedlich akzeptierten Religionskulturen erforderlich war. Hier konnte die Begründung der dem christlichen Glauben eigenen Gewissheit mit der Begründung religiöser Gewissheit überhaupt verbunden werden. Der theologische Diskurs musste nun (was Heim wie Frank nicht sahen) notwendigerweise mit religionsphilosophischen und kulturtheoretischen Diskursen korreliert werden, in der normativen nicht weniger als in der beschreibenden Perspektive. Denn nun stand nicht mehr von vornherein fest, dass das theologische Argument wegen seines Rekurses auf biblische Offenbarung gegenüber dem nicht-theologischen Argument im Recht sei.42
Im Blick auf das Gewissheitsproblem sollte man nicht übersehen, dass dieser Vorgang die Theologie mit der neuzeitlichen Konstellation von Glauben und Vernunft liierte. Auch wenn nicht unvermeidlich die Folge war, dass das Autoritätsgefälle von offenbarungsbasiertem Glauben und freier Vernunft zugunsten der Letzteren schlicht umgekehrt wurde, so konnte die Theologie gleichwohl nicht das beiderseitige Einverständnis darüber voraussetzen, dass ihr Interesse an Glaubensgewissheit mit dem säkularen Interesse an zweifelsfreiem Wissen konvergierte. Der Rekurs auf Glaubensgewissheit durch selbsteigene Erfahrung war im 18. Jahrhundert und seinen anhaltenden Nachwirkungen den Bemühungen verhaftet, den in der Frühen Neuzeit bedrohlich werdenden Pyrrhonismus zu überwinden, die auch vernünftig, ja wissenschaftlich provozierte Skepsis gegen die Erkenntnisfähigkeit der Vernunft.43
Es wäre voreilig zu sagen, dass diese Konstellation mit der Vernunftkritik Immanuel Kants und dem dialektischen Vernunftbegriff des Deutschen Idealismus an ihr Ende gekommen sei. Dies auch deshalb, weil der cartesianische Rekurs auf ein absolutes fundamentum inconcussum im Blick auf die theologisch beanspruchte Glaubensgewissheit nicht der gefährlichste war, wie es oft dargestellt wird. Die metaphysische Sicherung des Gottesbegriffs durch Descartes verschaffte der protestantischen Theologie ja noch lange ein indirektes, aber wirksames Argument für die Möglichkeit von Offenbarungsglauben. Gefährlicher als jener hyperbolische Zweifel war die Erosion der Funktion der Heiligen Schrift als zwar nicht zureichender, doch notwendiger Referenz der Glaubensgewissheit. Dies umso mehr, als man die Bibel nun historisch-kritisch oder rationalistisch ihrer fraglos kanonischen Autorität berauben, doch nichtsdestoweniger behaupten konnte, dass der eigene Glaube gewiss, ja unfehlbar sei (fides certa et infallibilis): Das hatten schon im 17. Jahrhundert die römisch-katholischen Kritiker der Bibel einerseits, rationalistische Leser der Bibel wie die Sozinianer andererseits behauptet.44
Die Begründung der Glaubensgewissheit auf selbsteigene Erfahrung war etwas anderes als das testimonium Spiritus Sancti internum, das mit der Heiligen Schrift und ihrer kausativen Autorität korreliert war. Wenn man nicht gar erklärte, ein solches Zeugnis noch nie gespürt zu haben, konnte die Meinung, die eigene Empfindung und innere Erfahrung verbürge hinreichend Gewissheit, sich auf die Heilige Schrift nur berufen, soweit ihre Glaubwürdigkeit vernünftig, hier: historisch belegt schien – aber historisches Wissen gab notwendige, keine zureichenden Gründe ab.45 Diese Herausforderung, klassisch formuliert in Gotthold Ephraim Lessings Über den Beweis des Geistes und der Kraft (1777) wurde und wird noch oft verdrängt.46 Für die mehr als individuelle Autorität authentischer Erfahrung mussten diese auf die »Religion, diesem allgemeinen Eigenthum«47, rekurrieren. Die ersten Schritte dazu, der religionsphilosophische von J.J. Spalding48 und der geschichtstheoretische von J.F.W. Jerusalem49, vermochten reformatorische Basisimpulse aufklärerisch zu aktualisieren, aber die durch sie nun artikulierte elastische Identität50 konnte die Kantsche Vernunftkritik nicht ohne tiefgreifende Modifikationen überstehen.
Es war dann F. Schleiermacher, der eine erkenntniskritisch geläuterte kulturphilosophische Plausibilisierung der positiven christlichen Gewissheit in seiner Theorie der Frömmigkeit zu formulieren vermochte, die als Lehnsätze aus der Ethik in seine Glaubenslehre (1821, ²1830) eingingen.51 Die Kritik, die Schleiermachers neuprotestantische Adaptierung des Gewissheitsthemas im 20. Jahrhundert erfuhr, hat nicht verhindert, dass eine neuerliche, im Wesentlichen zustimmende Rezeption der erreichten Theoriebildung sich als produktiv erwies. Um zu sehen, wie hier das neuzeitliche Erbe in Sachen Gewissheit bearbeitet wird, sei nochmals W. Härles Dogmatik konsultiert, die das Gewissheitsproblem im Rahmen der Frage nach dem Wesen des christlichen Glaubens behandelt. Der Begriff des Wesens, von allen Erscheinungsformen kategorial unterschieden, dient dem Autor als »konstruktives