II.FUNDAMENTALTHEOLOGISCHE EXPANSION
Dieser orthodoxe Ordnungsversuch spiegelt dem Leser heutiger Dogmatiken, wie viel sich seither in Sachen Glaubensgewissheit verändert hat. Doch schon seinerzeit wurde binnen dreier Generationen der soteriologische Gewissheitsbegriff fundamentaltheologisch erweitert. Die Thematisierung christlicher Gewissheit griff bereits zu dem aus, was bald Prolegomena oder Prinzipienlehre hieß: zur Vertrauenswürdigkeit der Schrift und ihrer lutherischen bzw. reformierten Auslegung. Dazu kam die neue Thematisierung dessen, was als natürliche Gotteserkenntnis bislang fraglos unterstellt war (und der eigenen Konfession als wahr zugeordnet wurde): die prinzipielle Bedeutung von Religion als universaler humaner Praxis. Eine Folge dieser Entwicklung war, dass der Umfang des Begriffsfeldes certitudo weit größer wurde als der der certitudo fidei justificantis. Dessen weiterhin auch soteriologische Behandlung fokussierte sich auf die tridentinische Bestreitung; das Problem der Anfechtung spielte selbst in der katechetischen Dogmatik nur eine marginale Rolle.12
In jüngster Zeit ist die fundamentaltheologische Thematisierung von Gewissheit noch einen Schritt weiter gegangen. Sie platziert christliche Gewissheit im Erfahrungsraum menschlicher Gewissheit überhaupt. Das ist plausibel angesichts der evidenten Tatsache, dass Gewissheit im Sinne des Sich-Anvertrauens an die Natur und die Umwelt immer ein Moment menschlicher Lebensführung ist – nach dem Ende der Newton’schen Ära auch von Naturwissenschaftlern nicht bestritten.13 Während es sich hier nirgendwo (auch nicht bei Naturgesetzen) um absolute, sondern um (manchmal nur minimal) relative Gewissheit handelt, rückt die angesprochene Fundamentaltheologie den Menschen als Subjekt von Gewissheit in seinen epistemischen, praktischen und affektiven Beziehungen zu seiner Lebenswelt und zu sich selbst darin in eine besondere Stellung, dass sie eine grundlegende Daseinsgewissheit jedes Menschen annimmt und diese als unbedingte charakterisiert. Das hat nicht zuletzt die Folge, wie Eilert Herms im RGG4 Artikel Gewißheit feststellt, dass Fundamentaltheologie auf dieses Thema konzentriert und zu einem sapientialen Diskurs wird: Sie besteht in der Beschreibung der »allgemeine[n] Bedingungen der Konstitution christlicher Gewißheit«, die als ausgezeichnete Variation innerhalb des Horizonts bestimmt wird, den die menschliche Daseinsgewissheit überhaupt aufspannt.14
Die Folgen für den Gewissheitsbegriff werden besonders deutlich, wenn dieser im Rahmen der Bestimmung des Wesens des christlichen Glaubens thematisiert wird, wie dies Wilfried Härles Dogmatik von 1995 tut. Hier wird der fundamentalanthropologische Horizont der Bestimmung des christlichen Glaubens, also die basale Daseinsgewissheit überhaupt, verknüpft mit der vorausgehenden Bestimmung des Begriffs des Wesens oder der Identität einer Person oder Sache, d. h. mit dem, was sich kategorial von allen noch so verschiedenen Erscheinungsformen unterscheidet, als solches unveränderlich ist und sich gleichbleibt, was daher auch unaufgebbar und unverzichtbar daran ist.15 Diese Verknüpfung hat zum einen den Effekt, dass – dann auch für die christliche Glaubensgewissheit – der Aspekt der Differenz gegenüber dem der Identität und der Identitätssicherung sekundär wird. Zum andern bewirkt sie, dass die Daseinsgewissheit, d. h. Glaube im Sinne von Vertrauen, »wesentlich« unbedingtes Vertrauen ist. Daher kann, auf den ersten Blick paradox, gesagt werden: »Glaube, der auf Gewißheit gründet, ist angefochtener Glaube.«16
Dieser fundamentalanthropologische Gewissheitsbegriff hat zwar den der reformatorischen Soteriologie im Rücken, lässt den Anlass der Revision des traditionellen Gewissheitsbegriffs aber eher unwichtig erscheinen: das den Glauben anfechtende Mit- und Gegeneinander von Gewissheit und Zweifel, von Evidenz und Ungewissheit. Zunächst sei nur die Beobachtung notiert, dass die Verschiebung auch den Umgang mit dem reformatorischen Konzept der Glaubensgewissheit beeinflusst. So referiert der Abschnitt über Glaube und Rechtfertigung im »Luther Handbuch« die durch die Reformation überwundene Ungewissheit mehrmals, streift die Gewissheit des Glaubens aber nur – plausibel, denn die fides justificans ist als solche der promissio Gottes gewiss, da sie durch diese ja konstituiert wird.17 Die Anfechtung der Glaubensgewissheit wird aber nur nebenher thematisiert. Ohne sie überhaupt zu nennen, wird Glaubensgewissheit ausführlich besprochen im Abschnitt Mensch und definiert als »einzigartige Vertiefung menschlicher Selbsterschlossenheit«. Denn mit Bezug auf die »sapientiale« Verfassung des Menschseins überhaupt identifiziert sich der christliche Glaube als spezifischer Inhalt unmittelbarer Daseinsgewissheit. Es ist auch die im lumen gratiae »vertiefte« Daseinsgewissheit, die dem Glauben die Gewissheit des geschichtlichen Erschließungshandelns Gottes mitteilt: »[…] die aus der Christusoffenbarung stammende Glaubensgewißheit [ist] vertiefte Gewissheit über den jedem Menschen gewissen Zumutungscharakter des Lebens.«18
Im Verhältnis zur reformatorischen Konstellation von Vertrauensglauben, Gewissheit bzw. Anfechtung und Wort Gottes ist diese fundamentaltheologische Konstellation mehrdeutig. Sie interpretiert die reformatorische Rechtfertigungslehre in ihrer Valenz für die Erfassung aller menschlichen Erfahrung und des auf sie bezogenen Wissens; das ist zweifellos möglich und wünschbar. Aber sie interpretiert sie als wahrheitsfähig nicht nur im Blick auf das Wort Gottes und also hierdurch bedingt plausibel. Die Gewissheit der fides justificans wird, den existenziellen Konflikt, den die Buße situativ durchlebt, überschreitend, auf das allgemein menschliche Phänomen des Glaubens und Vertrauens bezogen. Die diesem Glauben wesentliche Gewissheit zu erfassen, wird möglich dadurch, dass der Rechtfertigungsglaube ein »Wirklichkeitsverständnis« aufbaut, um das Programm von Wilfried Härle und Eilert Herms von 1979 zu zitieren.19 Der partikularen Glaubensgewissheit wird also eine, wie Hermann Deuser sagt, »unüberspringbare Erkenntnisleistung«20 zugeschrieben, die ein jene Gewissheit nur prinzipiell voraussetzendes Wissen generiert, das in vernünftigen Diskursen zur Geltung gebracht werden kann. Folgerichtig hat Konrad Stock eine theologische Enzyklopädie als »Theorie der christlichen Gewissheit« konzipiert, die eine »philosophische Theologie« einschließt und einen »Rahmen kategorialer Bestimmungen über das Wesen der religiösen Erfahrung« bietet, in dem wiederum die allgemeinmenschliche Daseinsgewissheit ein wesentlicher Bezugspunkt ist.21
Die Entgrenzung des reformatorischen Begriffs der Gewissheit kann sich auch auf die dort zwar nicht thematische, aber zweifellos unterstellte Annahme natürlicher Gotteserkenntnis berufen, speziell auf Luthers Argument der Universalität von Vertrauen in dem Sinn, dass niemand ohne einen Gott resp. Abgott auskommt, an den er sein Herz hängt und von dem er alles Gute erwartet.22 Allerdings besagt diese Beziehung kein neutrales, sondern ein stets schon qualifiziertes Vertrauen; und eben dieses wird von dem auf Christus gegründeten Gottvertrauen falsifiziert. Das könnte man auch noch als Bestätigung verstehen, wenn man auch in der Bezugnahme des Evangeliums auf das Gesetz ein Moment der Bestätigung erkennen darf. Sie aber gilt wohl nur für die Absicht des Gesetzgebers, nicht für die Wirkung des Gesetzes auf Menschen, die nicht in der Gewissheit des