»Bitte, setzen Sie sich.«
Bevor Martina dieser Aufforderung nachkam, zog sie ihr Diplom aus der Kollegtasche und legte es Frau Heerdegen vor. Sie fühlte sich in ihrem Etuikleid aus grün-braunem Glencheckstoff und dem dazugehörigen dreiviertellangen Mantel mit dreiviertellangen Ärmeln und breiten Aufschlägen sehr sicher. Ihren rechten Handschuh hatte sie ausgezogen und hielt ihn in der linken Hand.
Frau Heerdegen betrachtete das Diplom. Sie mochte Mitte Vierzig sein, eine Frau mit sehr gepflegtem, aber teigig wirkendem Gesicht. »Sehr schön. Sie haben es also geschafft. Wann können Sie bei uns anfangen?«
»Nach Ostern, Frau Heerdegen. Ich muß mich erst nach einer Wohnung in Düsseldorf umsehen.«
»Sie sind nicht von hier?«
»Nein, aus Dinslaken.«
»Das ist ja nicht allzu weit.«
»Ich bin täglich zur Schule gefahren. Aber jetzt möchte ich doch hier wohnen, und es wird nicht einfach sein, eine passende Wohnung zu finden. Der Umzug . . . « Martina hielt es nicht für zweckmäßig, von ihren Kindern und ihrer Scheidung zu sprechen.
»Na schön. Nach Ostern also.« Frau Heerdegen reichte ihr das Diplom zurück. »Zu den üblichen Bedingungen. Dreihundert Mark brutto.«
»Einverstanden.«
»Ich hoffe, es stört Sie nicht, wenn wir Sie Martina nennen.«
»Nein, gar nicht.«
»Ich sehe Sie dann am 2. Mai. Vergessen Sie nicht, sich eine Lohnsteuerkarte zu besorgen.«
Martina fühlte sich entlassen und stand auf.
»Sie sind nicht mehr jung«, erklärte Frau Heerdegen überraschend.
Was selten geschah – Martina schoß das Blut ins Gesicht. »Ich bin siebenundzwanzig.«
»Das meine ich ja. Es bleibt Ihnen wenig Zeit.«
»Aber wieso denn? Das verstehe ich nicht!«
»Eine Kosmetikerin kann nur Erfolg haben, solange sie selber jung und attraktiv wirkt. Alle Kenntnisse und alle erworbenen Fähigkeiten nutzen ihr nichts mehr, wenn sie nicht ihr eigenes Aushängeschild sein kann. Sehen Sie mich an. Ich bin fünfundvierzig und gehöre schon zum alten Eisen.«
»Das muß aber doch nicht sein!«
»Ja, bleiben Sie nur dabei. So werden Sie auch Ihre Kundinnen überzeugen können. Sie werden noch früh genug lernen, daß man mit allen kosmetischen Tricks das Altern doch nicht verhindern kann.«
»Warum sagen Sie mir das?«
»Damit Sie mit Ihrem Pfunde wuchern.«
Jetzt konnte Martina wieder lächeln. »Danke, Frau Heerdegen. Genau das habe ich vor.«.
Als Martina nach Hause kam, fand sie einen Brief des Landgerichts auf dem Garderobentisch. Da sie bei der Lektüre weder gestört noch beobachtet werden wollte, verzog sie sich damit ins Bad und schloß die Tür hinter sich ab. Auf dem Rand der Wanne sitzend, noch im Mantel, riß sie den blauen Umschlag auf, entnahm ihm eine Kopie und las:
Nichtöffentl. Sitzung der 2. Zivilkammer des Landgerichts R 70/60 | Dinslaken, den 15. 3. 1960 |
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Anwesend:LGRat Wohnsdorf | In Sachen Martina Stadelmann geh. Schmitz, in Dinslaken, Neustr. 11 aKlägerin, |
als Einzelrichter Justizang. Schuler | Proz.-Bev.: RA. Dr. Günther gegen |
als U.d.G. | Helmut Stadelmann, Oberpostinspektor, Dinslaken, Neustr. 11 a Beklagten – Proz.-Bev.: RA. Dr. Brocksieper |
erschienen bei Aufruf
1 für die Klägerin RA. Dr. Günther
2 für den Beklagten RA. Dr. Brocksieper.
Die Parteien schließen folgende
Vereinbarung:
1 Für den Fall, daß die Ehe aus Alleinversckulden des Beklagten geschieden werden sollte, zahlt der Beklagte an die Klägerin eine einmalige Abfindung von 36 000,– DM, und zwar am 1. 5. 1960. Der Beklagte übernimmt die Kosten der Vereinbarung.
Martina stieß einen tiefen Seufzer der Befriedigung aus, studierte den Passus dann noch einmal, bevor sie weiterging.
1 Für den Unterhalt der beiden Kinder Claudia Stadelmann, geb. am 10. 7. 1951, und Stefan Stadelmann, geb. am 15. 6. 1952, die bei der Mutter bleiben sollen, zahlt der Beklagte monatlich je 200,– DM.
Na, immerhin, dachte Martina.
Für die Dauer von drei Jahren ist der Beklagte nicht berechtigt, gem. § 323 ZPO eine Abänderung zu begehren.
Der Beklagte übernimmt die Kosten der Vereinbarung. Der Proz.-Bev. der Klägerin erklärt, daß er sich in seinem Vortrag lediglich darauf beschränke, daß der Beklagte ehewidrige Beziehungen zu Fräulein Dinkler in Dinslaken unterhält. Die Sache wird an die Kammer abgegeben. Termin vor der Kammer wird anberaumt auf den 30. 3. 1960, 11 Uhr.
gez. Wohnsdorf
gez. Schuler
Martina ließ das Blatt sinken. Das war der Sieg. Sie hatte es geschafft. Langsam erhob sie sich, streckte sich und blickte lange in den Spiegel. Ihr Gesicht mit den schmalen, jetzt vor Erregung leicht geröteten Wangen unter dem hochgetürmten Haar war attraktiv. Die verschiedenfarbenen Augen, über die sie sich lange geärgert und mit denen sie sich inzwischen abgefunden hatte, gaben ihm etwas Geheimnisvolles. Die Haut war glatt und makellos, ohne vergrößerte Poren, Unreinheiten oder Fältchen.
Nein, Frau Heerdegen konnte ihr nicht bange machen. Sie hatte mindestens noch gute zehn Jahre vor sich. Und dann?
Unsinnig, jetzt schon darüber nachzudenken.
Den Nachmittag verbrachte Martina mit den Kindern. Sie prüfte ihr Schulwissen, erkundigte sich, wie wohl die Zeugnisse ausfallen würden, und regte sie an, von ihren Erlebnissen und Problemen zu erzählen.
Über die Scheidung sprach sie nicht. Sie hatte es vorgehabt, brachte es dann aber doch nicht über die Lippen. Die Kinder stellten keinerlei Fragen, und ihr schien der Zeitpunkt nicht gekommen.
Einmal sagte sie beiläufig: »Wenn wir dann erst in Düsseldorf wohnen . . . «
Claudia parierte sofort: »Ich komme nicht mit nach Düsseldorf!«
Martina wollte sich nicht mit ihrer Tochter streiten und zog es vor, das Thema zu wechseln.
Helmut kam pünktlich, kurz nach sechs, nach Hause. Sein Gesicht war verschlossen wie meist in der letzten Zeit.
»Ich habe einen Brief vom Landgericht bekommen«, berichtete Martina.
»Ich auch. Die Post kam, kurz nachdem du fort warst.«
»Ach so.« Martina gab sich einen Ruck. »Ich möchte dir danken, Helmut. Für dein großzügiges Entgegenkommen.«
Sein Gesicht erhellte sich nicht. »So könnte man es auch nennen. Tatsächlich hast du mir kaum eine Wahl gelassen.«
»Ich danke dir trotzdem. Es war sehr anständig von dir.«
Er knurrte nur.
»Übrigens habe ich heute eine Stellung gefunden.«
»Gratuliere.« Sein Ton drückte völlige Interesselosigkeit aus.
»Gehst du zum Termin?«