»Stellt euch vor, Kinder«, hörte Martina sie rufen, »die Kleine will sich scheiden lassen!«
Martina nahm sich Zeit. Es war ihr ganz lieb, daß die erste Aufregung schon verebbt sein würde, bevor sie ihrer Mutter und ihrem Stiefvater entgegentrat. Prüfend musterte sie sich im Garderobenspiegel. Sie trug ein Wollkleid, rot mit weiten Fledermausärmeln, dazu einen breitrandigen schwarzen Hut, ein Aufzug, der ihr etwas Dramatisches gab. Das Gesicht hatte sie sich sehr sorgfältig zurechtgemacht. Vielleicht hätte sie etwas mehr Make-up auflegen sollen, stellte sie kritisch fest, aber andererseits paßte die Blässe ganz gut zu ihrer Situation.
»Ich hab’s ihnen gesagt!« Die Großmutter kam, die Nelken noch immer in der Hand, aus dem Wohnzimmer getrippelt.
»Bitte erzähl nichts, bevor ich wieder zurück bin! Ich will nur rasch diese Blumen ins Wasser . . . «
»Aber das kann doch ich tun, Großma!«
»Nein, nein, nichts da! Du weißt ja nicht, welche Vase paßt! Geh nur hinein. Ich komme gleich nach.«
Martina klemmte sich ihre schwarze Handtasche fester unter den Arm und machte sich auf den Weg durch den langen Gang. Das Wohnzimmer war genauso, wie sie es in Erinnerung gehabt hatte, vollgestopft mit schwarzen, reichgeschnitzten Möbeln, schweren Sesseln und Brokatdecken. Nur das Radio und ein Beistelltisch waren modern, das heißt, sie entstammten den fünfziger Jahren.
»Tag, ihr Lieben«, grüßte sie mit gespielter Unbefangenheit. Ihre Mutter, eine Frau mit einem runden, schlaffen Gesicht, kleinem verzogenem Mund und übergroßen grauen Augen, deren Blick sie selber für »seelenvoll« hielt – andere, weniger wohlmeinende Menschen nannten ihn »basedowsch« –, saß auf dem mit rotem Brokat bezogenen Sofa. Daneben ihr zweiter Mann, Kurt Handschuhmacher, kurzbeinig, glatzköpfig und kompakt. Martina hatte nie herausbekommen, warum ihre anspruchsvolle und empfindliche Mutter ihn genommen hatte: Weil er als Generalvertreter einer Limonadenfirma sehr gut verdiente, weil sie endlich von der Vormundschaft ihrer Mutter loskommen oder weil sie ihrer Tochter nicht nachstehen wollte? Daß es sich um Liebe oder auch nur um echte Zuneigung – jedenfalls von ihrer Seite aus – handeln könnte, hatte sie sich nie vorstellen können.
Kurt Handschuhmacher unternahm den Versuch, sich aus dem tiefen Polster des Sofas zu erheben, was ihm mit seinen kurzen Beinen nicht gleich gelang.
»Ach, bleib doch sitzen«, sagte Martina rasch, umkreiste das Sofa – vor den beiden stand der runde, schon gedeckte Kaffeetisch –, beugte sich von hinten zu ihrer Mutter und gab ihr einen Kuß. »Gut siehst du aus, Mutti!«
»Findest du? Aber ich fühle mich gar nicht wohl. Seit einiger Zeit habe ich so ein Zittern. Doktor Riemenschneider sagt . . . «
Martina, abgestumpft von ständig neuen Krankheitsgeschichten, hörte gar nicht hin.
Freundschaftlich legte sie ihrem Stiefvater die Hand auf die Schulter. »Wie geht’s, Kurt?«
»Nicht schlecht, nein, wirklich nicht schlecht«, erklärte Kurt Handschuhmacher in einem Ton, als müsse er sich für eine gute Gesundheit entschuldigen.
Martina stellte rasch drei Gedecke zusammen und räumte sie auf das Büfett. Sie fand es bezeichnend, daß ihre Mutter es nicht einmal für nötig hielt, sich nach Claudia und Stefan zu erkundigen.
»Gehst du immer noch in diese . . . in deine Kosmetikschule?« fragte Frau Handschuhmacher und ließ wieder einmal durchblicken, daß sie Martinas Vorhaben für nichts als einen Spleen hielt, dessen Sinnlosigkeit sie früher oder später selber erkennen würde.
»Ich stehe kurz vor dem Abschluß.« Martina war froh, das sagen zu können.
»Ach, wahrhaftig?«
»Hast du schon Pläne für die Zukunft?« fragte Kurt Handschuhmacher. Er war nur dem Namen nach ihr Stiefvater, hatte niemals erzieherische Gewalt über sie ausgeübt, da ihre Mutter ihn erst geheiratet hatte, als sie selber schon aus dem Haus war.
»Ich will mich selbständig machen.«
»Von was denn?« fragte ihre Mutter. »Du reflektierst doch hoffentlich nicht darauf, daß Kurt dir . . . «
»Nein. Sei ganz beruhigt, Mutti. Ich rechne in keiner Weise mit der Unterstützung meiner Familie.« Sie nahm im Sessel neben ihrer Mutter Platz.
»Das ist sehr klug von dir.« Die alte Frau Wülfing war hereingekommen und hatte ihre letzten Worte aufgefangen; sie stellte die heiße Kaffeekanne auf den Tisch. »Du bist schließlich ein erwachsener Mensch.«
»Danke, Großma.« Martina tat, als nähme sie die Bemerkung als Kompliment.
»Bitte, greift zu«, mahnte die Großmutter, »laßt euch nicht bedienen.« Sie wies auf die hübsch dekorierte Schwarzwälder Kirschtorte auf der Mitte des Tisches. »Natürlich habe ich sie nicht selbst gebacken. Das wäre eine reichlich unproduktive Arbeit, wo es in Essen so großartige Konditoreien gibt.«
»Richtig, Großma«, sagte Martina. »Kaufst du immer noch in der Limbecker Straße?« Sie tat ihrer Mutter, die sich zierte, und Kurt Handschuhmacher, der dankend annahm, je ein Stück mit der silbernen Tortenschaufel auf den Teller und bediente sich selber.
Die alte Frau Wülfing schenkte Kaffee ein, und eine Weile waren alle damit beschäftigt, sich Sahne und Zucker zu reichen, umzurühren und zu probieren. Gabeln und Löffel klirrten.
Dann nahm Kurt Handschuhmacher, der langsam, aber gründlich dachte, das angeschnittene Thema wieder auf. »Vielleicht könntest du einen Kredit bekommen?«
»Du willst doch wohl nicht für sie bürgen?« fragte seine Frau sofort. »Denk an deinen sogenannten Freund . . . «
»Reg dich nicht auf, Mutti«, sagte Martina, »du scheinst eine geradezu panische Angst zu haben, daß ich was von euch wollen könnte. Aber daran habe ich keinen Augenblick gedacht, jedenfalls nicht in finanzieller Hinsicht. Allerdings wäre es mir eine große Beruhigung zu wissen, daß du oder Großma die Kinder . . . nur vorübergehend . . . «
»Ausgeschlossen!« Jetzt war es Kurt Handschuhmacher, der energisch wurde – Martina hatte den Eindruck, daß seine Frau ihn unter dem Tisch angestoßen hatte. »Dazu ist der Gesundheitszustand deiner Mutter viel zu labil. Ihre Nerven . . . «
»Und was mich betrifft«, erklärte die alte Frau Wülfing mit Nachdruck, »so erfreue ich mich zwar, zum Glück, bester Gesundheit . . . vielleicht, weil ich mich nicht soviel mit ihr beschäftige wie du, meine liebe Hertha, aber ich denke gar nicht daran, mit zwei ungezogenen Bälgern . . . «
»So solltest du Stefan und Claudia wirklich nicht nennen!« protestierte Martina.
»Ich nenne sie, wie ich will! Und wenn sie die am besten erzogenen und unproblematischsten Kinder der Welt wären, würde ich sie nicht haben wollen. Ich bin froh, daß ich endlich tun und lassen kann, was ich will: aufstehen, wann es mir beliebt, essen, wenn ich Appetit habe, schlafen gehen, wenn ich müde bin, nach Hause kommen, wann ich Lust habe. Deine Kinder, liebe Martina, würden mir schrecklich im Wege sein.«
»Ich verstehe auch gar nicht«, sagte Martinas Mutter, während sie ein Stück Torte auf dem Kuchengäbelchen balancierte, »warum du dich scheiden lassen mußt.« Ohne eine Antwort abzuwarten, steckte sie den Bissen in den Mund.
»Erst hast du es nicht verstanden, warum ich Helmut geheiratet habe . . . «
»Eben. Das eine ist so unnötig wie das andere.«
»Ich habe dich immer vor diesem Problem gewarnt«, erklärte die alte Frau Wülfing genüßlich. »Er paßt nicht zu dir, und er paßt nicht in unsere Familie . . . «
»Wenn du wenigstens dein Abitur gemacht hättest!« klagte die Mutter. »Armes Kind, jetzt stehst du da, ohne Beruf . . . «
»Solltest du vergessen haben, daß ich mitten in der Ausbildung zur Kosmetikerin stecke?«
»Kosmetikerin! Das ist schon was!«
»Jedenfalls ein Beruf, mit dem ich mich selbst