Allergien revolutionär. Magdalena Stampfer. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Magdalena Stampfer
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Сделай Сам
Год издания: 0
isbn: 9783966612531
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und in Wirklichkeit ist unser Körper bestens dafür gerüstet, gesund und heil zu bleiben. Wir müssen es ihm allerdings ermöglichen.

      Viel zu oft stören wir den Körper bei seiner Selbstheilungsarbeit, sodass er diese nicht entsprechend verrichten kann. An sich wäre er eine gut geölte, hochkomplexe Maschine mit einer unglaublichen körpereigenen Intelligenz, die sich selbst steuert. Der menschliche Körper hat enorme Reserven und Kapazitäten zur Selbstheilung. In manchen Fällen sind sie uns im Moment nicht zugänglich oder wir haben auf sie vergessen. Oder der Körper kann aus bestimmten Gründen die natürliche Regulation nicht mehr bewerkstelligen. Keinesfalls aber spielt er grundlos verrückt und geht uns mit Symptomen auf die Nerven, weil ihm langweilig geworden ist. Ob es seltsame Gefühle oder organische Beschwerden sind, es gibt für alles eine Ursache, auch wenn sie nicht immer leicht zu finden ist. Sobald man sie eruiert hat, wird einem klar, dass das Verhalten unseres Körpers vollkommen logisch war, auch wenn es anfangs nicht so aussah.

      Unser Organismus ist grundsätzlich auf Heilung ausgelegt, so wie alles in der Natur auf Fortbestand und Leben programmiert ist. Sobald wir uns in den Finger schneiden, werden umgehend Reparaturmaßnahmen ergriffen, ohne dass wir auch nur daran denken müssten. Kaum haben wir etwas Verdorbenes gegessen, versucht der Körper es wieder loszuwerden, damit es keinen größeren Schaden anrichten kann. Hat sich ein Kleinkind verkühlt, bekommt es Fieber, um die pathogenen Keime zu eliminieren und Schnupfen oder Husten, um sie wieder auszuscheiden. Auch schwerwiegende Krankheiten sind Reaktionen auf Schädigungen oder Traumata, mit denen der Körper umzugehen versucht.

      Warum sollte das bei Allergien und Unverträglichkeiten anders sein? Es scheint so selbstverständlich zu sein, dass der Körper einfach so aus dem Ruder läuft, dass das im heutigen medizinischen Alltag nicht mehr hinterfragt wird. Es werden nur die Allergiesymptome behandelt oder das Immunsystem wird noch mehr irritiert. Bei genauerem Hinsehen aber ergeben allergische Erkrankungen durchaus Sinn.

      Was bringt nun aber das Immunsystem so in Aufruhr, dass sich der Körper das auch für später merkt? Es muss einen so starken Schock erfahren, der buchstäblich bis ins Mark fährt. Im Falle von Unverträglichkeiten sitzt der Schock vielleicht nicht so tief wie bei einer Allergie, aber auch da kommt der Körper mit etwas nicht zu Rande.

      Die Rolle der Toxine

      Dass der Körper aus Sicht der Evolution nichts „einfach so“ oder aus Langeweile macht, ist die Grundlage der sogenannten Toxin-Hypothese, die von Margie Profet aufgestellt wurde. Diese US-Wissenschaftlerin veröffentlichte 1991 eine Arbeit über den Sinn der Allergie [26]: „The Function of Allergy: Immunological Defense Against Toxins.“ In ihrem Artikel beschreibt sie schlüssig bis ins kleinste Detail durchdacht und auf immunologischer Basis erklärt, warum das Allergiegeschehen nicht einfach ein Fehler sein kann. Laut Profet sind Allergien keine Laune der Natur, sondern ein letzter Abwehrmechanismus gegen Toxine, wenn alle anderen Verteidigungsoptionen gescheitert sind.

      Allergien führen schließlich zu Symptomen wie Erbrechen, Husten, Niesen, Juckreiz oder Tränen, die alle dazu gedacht sind, die entsprechenden Toxine so schnell wie möglich aus dem Körper zu befördern. Eine starke allergische Reaktion geht häufig mit einer Senkung des Blutdrucks einher und dieser Mechanismus dient beispielsweise dazu, um die Verteilung der Toxine im Körper zu verlangsamen. Somit hätten der anaphylaktische Schock und das damit einhergehende Kreislaufversagen ein hehres Ziel, nämlich zu verhindern, dass sich die Gifte ausbreiten und in das sensibelste aller Organe vordringen, ins Gehirn. Die Evolution hätte schließlich nicht für irgendeine Fehlfunktion eine eigene Immunglobulin-Klasse entwickelt (IgE). Doch zum Schutz vor Toxinen würde das Sinn ergeben.

      Um eine Immunantwort zu bewirken, muss ein Antigen ein Molekulargewicht von ca. 2000g/mol haben, was viele Gifte nicht aufbringen, weil sie leichter sind. Doch auch eine Substanz mit niedrigeren Gewicht kann Reaktionen auslösen, wenn sie als Hapten an ein Trägerprotein gebunden ist. Das heißt: Bleibt ein noch so kleines Stück eines Toxins an einem Eiweiß kleben, kann es so einiges anstellen, auch wenn es alleine dafür zu klein gewesen wäre. Der Körper attackiert dabei zwar das Eiweiß, aber gestört wird er durch die giftige Substanz, die daran gebunden ist. Er kann diese aber nur in Kombination mit dem Eiweiß angehen. Während bei einem Infekt die entsprechenden Antikörper direkt auf den Eindringling losgehen, reagieren die allergiespezifischen IgE-Antikörper auf die Toxine indirekt. Sie bringen chemische Prozesse in Gang, um die Toxine auszuscheiden oder deren Verbreitung im Körper zu verlangsamen.

      Denn Toxine können den Körper akut schädigen, viele Gifte können zudem noch krebserregend sein und irreparable Schäden anrichten. Hinzu kommt, dass sie sich im Laufe der Zeit ansammeln und dadurch noch gefährlicher werden können. Der Schutz vor Toxinen durch allergische Reaktionen könnte daher auch ein Schutz vor Krebserregern sein, so Profets Argumentation. Die am stärksten krebserregenden Metalle (Arsen, Beryllium, Chrom und Nickel) sind auch die mit dem größten Allergiepotential. Nüsse wären voll von diesen Metallen, daher ihre allergene Wirkung.

      Auch die Bedeutung der Sensibilisierung wird bei Profets Erklärung klar: Bei Toxinen ist ein erneuter Kontakt mit einer Substanz, die als giftig und gefährlich gilt, von einer noch heftigeren Reaktion als zuvor gekennzeichnet. Denn der Körper versucht so schnell wie möglich das wiedererkannte Gift loszuwerden, um sich zu schützen, da die davon ausgehende Gefahr schon bekannt ist. Haben wir einmal einen giftigen Pilz gegessen, wird der Körper beim nächsten Kontakt noch heftiger reagieren, um uns vor dem Gift zu bewahren. Damit hat Margie Profet den Sinn der Allergien nachvollziehbar erklärt und das bereits vor fast 30 Jahren.

      Die bisherigen Erklärungsmodelle des Allergiegeschehens, wie jenes, das von einem gelangweilten Immunsystem ausgeht oder die Hypothese, dass Parasiten eine wesentliche Rolle spielen, nimmt Margie Profet mit erstaunlicher Leichtigkeit auseinander. Dass der IgE-Antikörper als Abwehrsystem gegen Parasiten entstanden wäre, ist unlogisch, denn ein erhöhter IgE-Wert hat keinen positiven Einfluss auf deren Abwehr, eher im Gegenteil. Der Großteil der Allergene hat mit Parasiten oder Würmern nichts zu tun, der Mensch reagiert eher auf Pollen, Nahrung, Metalle oder Insektengifte. In dem 40-seitigen Artikel geht Profet genau auf die zugrundeliegenden, chemischen Prozesse ein, erklärt, wo Toxine vorkommen und wie sie in die Nahrungskette gelangen. Und sie stellt auch fest, dass Gifte bei Nahrungsmittelallergien meist gar nicht berücksichtigt werden.

      Aus Sicht der Evolution waren allergische Reaktionen zunächst auf pflanzliche Toxine und giftige Tiere ausgelegt, aber sie dienten auch als Vermeidungsstrategie. Evolutionsgeschichtlich gesehen waren Gifte etwas Vermeidbares: Eine Pflanze nach deren Verzehr man mit Unwohlsein reagiert, sollte man einfach nicht essen. Somit war jede allergische Reaktion quasi ein Gourmetführer durch die steinzeitlichen Wiesen und Felder. Was kann ich essen? Und was nicht? Doch heutzutage begegnen uns Toxine auf vielfältigere Art und Weise und sind nicht einfach zu vermeiden.

      Margie Profets Arbeit wurde aufs heftigste kritisiert, hat aber den kritischen Peer-Reviews standgehalten und wurde publiziert. Für ihre Forschungsarbeit bekam sie 1993 im Alter von 35 Jahren die prestigeträchtige MacArthur-Förderung, die auch „Genius Grant“ genannt wird. Doch die Reaktionen der wissenschaftlichen Community auf ihren genialen Artikel waren oft kühl bis feindlich. Allerdings hatten die kritischen Einwände in Wirklichkeit kaum Hand und Fuß und waren eher ein Zeichen dafür, dass Margie Profet vielen auf den Schlips getreten war. Ein Kritiker beschwerte sich darüber, dass keine neue Allergietheorie notwendig wäre, denn es gebe ja schon die Parasitenhypothese. Wozu sollte man also weiter über den Sinn der Allergien nachdenken? Das mag vielleicht als philosophische Frage Gültigkeit haben, aber ein wissenschaftlich fundiertes Argument gegen Profets Thesen ist das keineswegs (abgesehen von dem festgefahrenen Denken).

      So umstritten die Arbeit war: Profets Modell konnte von niemandem widerlegt werden. Ignorieren schien demnach die beste Option, denn so schlüssig Margie Profets Erklärung ist, so unbequem ist sie auch. Bequemlichkeit und Konformismus sind allerdings keine Eigenschaften, die man mit dieser Forscherin verbindet. 1958 geboren, studierte Margie Profet zunächst politische Philosophie in Harvard, um dann noch einen Physik-Bachelor in Berkeley draufzulegen. Später begann sie noch ein Mathematikstudium. Doch die Reglementierungen des Bildungswesens