Allergien revolutionär. Magdalena Stampfer. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Magdalena Stampfer
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Сделай Сам
Год издания: 0
isbn: 9783966612531
Скачать книгу
Er würde ja gern in die Schule gehen, meint er, aber es ginge einfach nicht. Was wie eine Teenager-Ausrede klingen mag, erweist sich in Wirklichkeit als ein massives Stoffwechselproblem. In der kinesiologischen Testung reagiert er energetisch vor allem auf Weizen und auf eine hohe Toxinbelastung. Deshalb bitte ich die Mutter nochmals mit dem Arzt zu sprechen und zur Absicherung auch einen Allergietest zu veranlassen. Bisher musste er sich zwar allen möglichen Tests und sogar psychologischen Gutachten unterziehen, aber in all den Jahren wurde kein Allergietest gemacht. Denn Alex leidet nicht an den „klassischen“ Allergiesymptomen und auf die Idee, dass es an einer Allergie liegen könnte, ist man nicht gekommen.

      Einige Wochen darauf meldet sich die Mutter mit dem Ergebnis: Der IgE-Wert, ein Allergiemarker im Blut, ist viel zu hoch. Durch die anschließende Ernährungsumstellung und Entgiftung bessert sich sein Zustand und von Woche zu Woche steigt sein Wohlbefinden. Ein paar Monate später bekomme ich von der glücklichen Mutter ein SMS: „Danke für deine Unterstützung! Alex geht ganz normal in die Schule und unternimmt jetzt auch wieder etwas mit uns. Wir waren sogar wandern. Endlich habe ich meinen Sohn zurück!“

      Wissenschaftlich erwiesen…und irregeführt

      Ich denke bei „Statistik“ an den Jäger, der bei einem Hasen das erste Mal knapp links danebenschoss, und beim zweiten Mal knapp rechts vorbei. Im statistischen Durchschnitt gäbe es einen toten Hasen.

      (Franz Steinkühler)

      Seit Jahrzehnten wird scheinbar emsig zu Allergien und Unverträglichkeiten geforscht. Vieles sollte schon klar und gelöst sein. Doch irgendwie scheint es trotz der Ansammlung von Informationen keine Lösungen zu geben. Wir wissen zwar immer mehr darüber, trotzdem nehmen Allergien und Unverträglichkeiten stetig zu. Offensichtlich läuft irgendetwas falsch. Grund genug sich darüber Gedanken zu machen, warum das so ist, bevor wir uns der Ursachenforschung widmen.

      Ob am Joghurtbecher, auf dem Tiegel der teuren Creme oder in diversen Zeitungsartikeln: Die Formulierungen „wissenschaftlich erwiesen“ oder „Studien zufolge“ verleihen fast jeder Aussage einen erhabenen Hauch von Glaubwürdigkeit und Seriosität. Wir wiegen uns in Sicherheit, schließlich haben Wissenschaftler diese Fakten wohl in objektiven Untersuchungen ermittelt. Mit Gedanken wie „Es wird schon stimmen“ oder „Das haben die Behörden sicher überprüft“ können wir uns mit ruhigem Gewissen dem Alltag zuwenden.

      Das Problem dabei: Kaum jemand liest sich wissenschaftliche Studien genau durch, abgesehen von den Autoren und ihren Kollegen sowie einer kleinen Runde von interessierten Nerds. Es ist auch kein besonders einfaches Unterfangen, denn der tatsächliche Inhalt wird in vielen Fällen erst zugänglich, wenn man sich durch ein sprachliches Labyrinth aus komplizierten Formulierungen und langwierigen Definitionen durchgearbeitet hat. In einige dieser Irrgärten kann man sich nur mit einem gehörigen Espressovorrat oder unbändiger Neugier wagen, um nicht sehr bald von Sekundenschlaf übermannt zu werden. Es scheint eine unausgesprochene Regel zu sein, dass Erkenntnisse nicht in einfachen Worten preisgegeben werden dürfen. Interessanterweise finden sich in den Zusammenfassungen recht allgemeine, beschwichtigende Formulierungen, während im Inhaltsteil des Öfteren schärfere Töne angeschlagen werden. Sogar die Autoren gehen anscheinend davon aus, dass die breite Masse (oder der Auftraggeber) sowieso nur den Abstract liest.

      Das Wort „Studie“ wird für alles Mögliche verwendet, auch wenn die Qualitätsunterschiede zwischen den Publikationen enorm sein können. Man muss kein Medienexperte sein, um den Unterschied zwischen einem Artikel aus der Bild-Zeitung und einer Analyse aus dem britischen Guardian zu erahnen. Doch bei wissenschaftlichen Studien ist es nicht mehr so einfach zu erkennen, wie seriös die Publikation und wie plausibel die Forschungsresultate tatsächlich sind.

      Oft erfährt man erst Jahre später, dass die Ergebnisse mit der Realität nichts gemeinsam haben und für die Auftraggeber geschönt wurden. Das betrifft keineswegs nur kleinere Institute, die ums Überleben kämpfen müssen. So wurden in den 1960er Jahren an der renommierten Harvard Universität Publikationen veröffentlicht, die die Aufregung um Zucker relativierten: Übermäßiger Zuckerkonsum wäre bei koronaren Herzerkrankungen kein Problem, die Patienten sollten eher auf Fette und Cholesterin achten. Gleich zwei unterschiedliche Studien kamen fast gleichzeitig zu diesem Ergebnis und werteten sich gegenseitig in ihrer Glaubwürdigkeit auf. Schließlich waren die Autoren damals in der Forscherszene recht berühmt und das damalige New England Journal of Medicine verlangte keine Offenlegung von Sponsoren oder eventuell bestehenden Interessenskonflikten. Erst nach dem Tod dieser zwei Forscher stellte sich heraus, dass die Zuckerindustrie den beiden Zigtausende Dollar gezahlt hatte [16]. Doch das wurde erst 2016 bekannt, da war das Geld wahrscheinlich schon längst ausgegeben. Die Forschungen nach den tatsächlichen Gefahren des hohen Zuckerkonsums wurden aber effizient um ein paar Jahrzehnte lahmgelegt. Denn niemand wollte sich mit den Koryphäen auf diesem Gebiet anlegen.

      Heutzutage müssen Interessenskonflikte bei Publikationen angegeben werden, was allerdings nicht immer geschieht. Manchmal wird im Stress des wissenschaftlichen Alltags zufällig darauf vergessen oder die Nähe zu einem Konzern als nicht erwähnenswert angesehen. Nicht selten werden Mitarbeiter von Konzernen als Co-Autoren der Artikel genannt, was den Hauptverfassern vor Jahren noch die Schamesröte ins Gesicht getrieben hätte. Mittlerweile regt sich niemand mehr darüber auf.

      Trotz der Pflicht zur Offenlegung hat sich an den Praktiken nicht viel geändert. Erst 2015 erschien in der Online-Version der New York Times ein Bericht, wie Coca-Cola mit Forschern „zusammenarbeitet“ um die Fettleibigkeitsepidemie nicht der Ernährungsweise, sondern mangelnder Bewegung in die Schuhe zu schieben [17]. Die Idee ist eigentlich genial. Mithilfe der Wissenschaft sollen die Menschen vom Kalorienzählen zum Klimmzügezählen gebracht werden, denn nach dem Training können sie ja noch mehr Softdrinks konsumieren. Allein die Werbesujets dieser Kampagne sind kabarettreif: „Coca-Cola. Helping families get fit“. Der Wahrheit ein wenig näher wäre wohl „get fat“ gewesen.

      Entscheidende Finanzierung

      Der Großteil der wissenschaftlichen Publikationen wird heutzutage zur Gänze oder zumindest teilweise von der Industrie finanziert. Natürlich nicht immer direkt, sondern beispielsweise über Stiftungen, die man (selbstverständlich völlig uneigennützig) unterstützt. Jene Einrichtungen, die über die Vergabe der Forschungsgelder entscheiden, haben es auch in der Hand, welche Studien durchgeführt werden und welche nicht. Unangenehme Themen verstauben so in der Schublade. Neue Ansatzpunkte müssen sich erst den Weg über Generationen von Wissenschaftlern suchen, bis sie sich durchsetzen. Manche dieser bahnbrechenden Entdeckungen werden erst Jahre oder Jahrzehnte später mit großer Anerkennung bedacht und sogar mit dem Nobelpreis belohnt. Einigen Wissenschaftlern wird die große Ehre oft gar nicht mehr zeitlebens zuteil, wie bei der Vergabe des Nobelpreises immer wieder zu beobachten ist. Der durchschnittliche Zeitraum zwischen einer Entdeckung und der Verleihung des prestigeträchtigen Preises beträgt übrigens zwanzig Jahre, Tendenz steigend [18]. Der Russe Witali Ginsburg beispielsweise erhielt 2003 den Nobelpreis – für seine revolutionären Forschungen aus dem Jahre 1950.

      Oft werden Entdeckungen zunächst nicht ernst genommen oder sogar geächtet, wenn sie dem derzeitigen, offiziellen Wissenstand widersprechen. Und nicht immer werden jene ausgezeichnet, die die besten Ideen haben. Manch geniale Entdeckung wird nur nebenbei in ein Notizbuch gekritzelt und Jahre später bekommt jemand anderes den Nobelpreis dafür, weil er schneller publiziert hat und möglicherweise nicht ganz korrekt bei der Informationsbesorgung vorgegangen war. Das war beispielsweise bei der in den 1960er Jahren prämierten Erkenntnis, dass es sich bei der DNA um eine Doppel-Helix handelt, der Fall. So ruhig und besonnen, wie man sich einen Wissenschaftler vorstellt, der in aller Ruhe seinen Forschungen im Labor nachgehen kann, ist die Realität eines Forschers heutzutage nicht. Der Konkurrenzdruck ist hoch, die Arbeitszeiten lang und die Forschungsgelder knapp.

      Außer jenen Personen, die für die Reviews in wissenschaftlichen Zeitschriften zuständig sind, macht sich zudem kaum jemand die Mühe, die Quellen auch wirklich zu überprüfen und die Methodik Schritt für