Ueberallhin verfolgt das Kind des Schwarzwaldes das Heimweh nach dem frischen Gottesodem, der über die mit Tannen bedeckten Berge und über die anmutigen Täler streicht.
Und so war es auch Helene Braun, oder wie sie jetzt hiess, Nelly Brown, ergangen, die ein Dorfmädel des Schwarzwaldes gewesen, auf kurios gewundenen Zickzackwegen eine Varietétänzerin geworden und mit dem Manne, dem sie sich verbunden, kreuz und quer durch die bunte Welt gezogen war, die immer dort gelebt, wo es am lautesten und buntesten hergegangen.
Immer wieder hatte sie ihre Heimatssehnsucht unterdrücken müssen, immer wieder, bis sie nun als alternde Frau doch endlich einmal heimkehren durfte, wenn auch nur für kurze Zeit.
Aber sie war fremd geworden in der Heimat durch die langen Jahre, nur ein paar alte Leute erinnerten sich ihrer noch.
Sie trat mit dem Kind an der Hand aus dem Hause, setzte sich neben ihren Mann auf die Bank, während die kleine Babette in überquellender Lebensfreude die Aermchen hochreckte und einen Juchzer ausstiess.
Das Häuschen von Babettes Mutter war versteigert worden mit allem Mobiliar, aber das Kind ahnte nichts davon, wie bald es hier zum letzten Male durch das kleine Gärtchen rennen würde, ahnte nicht, dass seine Mutter niemals wiederkehren würde von dem Besuch im Himmel.
Es ahnte nicht, dass die beiden alten Leute auf der Bank vor dem Hause eben die Rückreise nach London besprachen, und noch einmal gründlich erwogen, ob es nicht doch besser wäre, die Kleine hierzulassen.
Ein Waisenhaus würde sie aufnehmen, aber auch hier im Orte selbst wäre wohl manche Familie gern bereit, die Kleine aufzuziehen. Das Häuschen mit allem, was sich darin und darum befand, hatte sechstausend Mark gebracht.
Das Kind war also nicht mittellos, brauchte nicht um ein ‚Vergelts Gott‘ aufgezogen werden.
Sechstausend Mark waren auch für das alternde Paar eine sehr annehmbare Summe, und beide überlegten hin und her, aber sie kamen zu keinem Entschluss.
Nelly Browns Figur war noch schlank und jugendlich, die ständige Beschäftigung mit dem Tanz hatte sie gerade und elastisch erhalten, doch ihr Gesicht, das wohl einstens sehr hübsch gewesen, hatte sehr von Schminke und Puder gelitten, und ihr Haar war rostrot gefärbt, bildete im Nacken einen kleinen lockigen Knoten.
Die mit ihr einmal unter den Schwarzwaldtannen jung gewesen, waren Bäuerinnen, deren Haut Sonne und Wetter verbrannt und gegerbt, mit dünnen ergrauten Scheiteln und plumpen resoluten Bewegungen, die nichts von Grazie und Körperkultur wussten. Die morgens mit dem angefeuchteten Handtuchzipfel über Gesicht und Hände fuhren oder am Brunnen eine flüchtige Wasserprobe nahmen, die Schminke und Puder niemals berührt und niemals einen Augenbrauen- noch einen Lippenstift besessen hatten.
Nelly Brown aber benützte noch alle diese kosmetischen Hilfsmittel und viele andere dazu, weil sie jünger aussehen wollte als sie war. Weil sie noch lange nicht zu den alten Frauen gehören wollte und durfte. Weil das eine Existenzfrage für sie war, für sie und ihren Mann.
Ein Herr ging langsam am Zaun vorüber, und dem Paar fiel es auf, mit welcher Aufmerksamkeit er das spielende Kind betrachtete.
Ganz versunken schien er in den Anblick.
Bis Babette selbst aufmerksam wurde, und an das Lattentürchen laufend, ihn keck und dreist fragte: „Was willst du denn, Mann?“
Der Herr lachte belustigt, und zog, dabei das Paar auf der Bank ansehend, den leichten braunen Filzhut, rief in verbindlich liebenswürdigem Tone: „Das ist die kleine Babette, nicht wahr, und die Herrschaften sind Herr und Frau Brown, wenn ich nicht irre?“
Der alte Tänzer erhob sich, trat näher.
„Zu dienen, mein Herr, ich bin Harry Brown. Darf ich fragen, was Sie zu mir führt?“
Er öffnete mit einladender Geste die kleine Gartentür.
Der Herr folgte der stummen Einladung.
„Ich hörte von einem jungen Ehepaar Ihren Namen, Herr Brown, beide haben Sie und die Kleine am Schluchsee getroffen. Ein Ball vermittelte die Bekanntschaft. Als mich ein Spaziergang nun heute hier vorbeiführte, erkannte ich das Kind sofort nach der Beschreibung, was wirklich nicht schwer war. Ich bin nämlich der Arzt, der die kränkliche Doppelgängerin Babettes in die Kur begleitet hat und sie behandelt.“
Harry Brown verständigte seine Frau durch ein paar erklärende Worte. Er hatte ihr bereits von der Begegnung mit der verstörten jungen Mutter erzählt.
Ueber Nelly Browns stark verpudertes Gesicht flog es wie ein Schein von Anteilnahme.
Vielleicht war es auch nur ganz einfache Neugier.
Sie bat den Doktor, ein wenig zu verweilen, und eine graziöse Handbewegung lud ihn ein, auf der Bank neben ihr Platz zu nehmen.
Er verbeugte sich, murmelte, wie das so oft beim Vorstellen geschieht, undeutlich seinen Namen, und ein Weilchen später wunderte er sich eigentlich selbst, wie es gekommen, dass er zwischen dem alten Tänzerpaar sass und ihm von dem Dahinsiechen Trautchens, von dem Jammer der Mutter, und dem wenig angenehmen Schwiegervater der jungen Frau erzählte.
Doch vermied er es, Namen zu nennen und auf die näheren Verhältnisse des alten und jungen Overmans einzugehen. Auch nannte er den Wohnort der Familie nicht, betonte nur den Reichtum des Familienoberhauptes und seine Tyrannei der jungen Frau, die sich entsetzlich fürchte vor dem derben höhnischen Alten, wenn das Kind nicht genesen würde oder gar stirbt.
Nelly Brown blickte, in tiefes Nachdenken verstrickt, zu Babette hinüber, die ein Stückchen abseits stand und zu der kleinen Gruppe auf der Bank herüberschielte.
„Die arme junge Frau hat entschieden Pech,“ sagte Nelly Brown aus ihrem Nachdenken heraus, „aber schliesslich, alles Gute ist nicht beisammen. Sie lebt wenigstens in Reichtum und Sorglosigkeit, ihr Dasein ist auf gediegenen Fundamenten aufgebaut. Wenn sie sich dafür ducken muss, so ist das mehr oder weniger ein bisschen ausgleichende Gerechtigkeit.“
Leise Bitternis klang durch die Sätze, galt den langen durchtanzten Lebensjahren, die ihr und dem Gefährten ihrer Tage die heissersehnte Sorglosigkeit nicht beschert hatten, so dass man sich nun, wo das Alter begann, sehr nach der Decke strecken musste, damit ein Notgroschen blieb, falls Krankheit käme.
Die langersehnte Reise in die Heimat war schon ein Zuviel gewesen, das man dem Spargeld zugemutet.
Sie nickte vor sich hin. „Ja, ja, manchmal gibt es im Leben Ausgleiche.“
Von einem jäh aufspringenden Gedanken erfasst, sagte sie: „Babette geht bei uns drüben in London wahrscheinlich doch keiner besonders sicheren Zukunft entgegen, die junge Frau kann ja das Kind zu sich nehmen. Die Aehnlichkeit der beiden kleinen Mädchen wird auch den Schwiegervater bewegen, seine Einwilligung zu geben. Das Kind zu adoptieren, ist das Elternpaar allerdings noch zu jung, aber die Hauptsache wäre doch, falls das kränkelnde Kind stirbt, dem alten Herrn einen Ersatz für seinen Liebling zu bringen.“
Just Frank glaubte zuerst, das überraschende Angebot sei nur scherzhaft gemeint, doch als Harry Brown jetzt ausrief: Das ist eigentlich eine ganz ausgezeichnete Idee meiner Frau! bezweifelte er nicht mehr, dass der Vorschlag durchaus ernst gemeint war, den die Frau mit dem gemalten Gesicht gemacht hatte.
Er lächelte amüsiert.
„Meine Herrschaften, das wäre ein Fastnachtsstreich in den Augen des alten Herrn. Er würde rasen vor Zorn über die Zumutung, seinen Liebling durch ein fremdes Kind zu ersetzen.“
Sein Lächeln schwand.
„Mit einem solchen Vorschlag würde sich die junge Frau seine vollständige Ungnade zuziehen.“ Nach einer kleinen Pause schob er zögernd nach: „Eigentlich, wenn ich es recht überlege, ist es jammerschade, dass es nicht geht, denn die Aehnlichkeit ist eine sehr grosse, wenn es bei genauerer Prüfung natürlich auch manchen Unterschied zwischen den beiden Kindern gibt. So scheint es mir, die Züge der kleinen Leidenden sind betonter, ausgeprägter, und Babettes Gesichtchen