Er seufzte ergeben.
„Ich fliege als Hausarzt natürlich auch, sobald er sich überzeugt hat, ich habe das Wunder, das er von mir erhofft, nicht schaffen können.“
Nelly Brown blickte wieder zu Babette hinüber, die mit einem Nachbarkätzchen ein phantastisches Spiel begonnen.
„Wenn der alte Herr einem offenen ehrlichen Vorschlag nicht zugänglich wäre, müsste man eben eine Täuschung in Szene setzen,“ begann Nelly Brown nach längerem Nachsinnen. „An Stelle des kranken Kindes käme eben Babette in das reiche Haus und gilt dort als die gesundgewordene Kranke. Natürlich erst nach längerer Zeit, nachdem sich Babette völlig an die junge Frau gewöhnt hat und vergessen hat, was vordem gewesen. Man müsste ihr einreden, alles Frühere war nur ein Traum. Allmählich glaubt sie es und denkt nicht mehr daran. Da die Kranke doch bald sterben wird, wie Sie sagen, wer will es dann verhindern, wenn wir drei hier und die jungen Eltern einig sind, dass sie unter dem Namen Babettes stirbt, unter dem Namen Babette Kempen.“
Sie hatte zum Schluss überschnell gesprochen, als müsse sie ihren Einfall rasch loswerden, und ehe einer der beiden Männer auch nur den kleinsten Einwurf machen konnte, redete sie schon weiter.
„Man müsste dem alten Herrn eben etwas vormachen. Es geschähe ja im besten Sinne aus anständigen und begreiflichen Gründen. Ihm bliebe, wenn das Kind gestorben, doch wenigstens der Glaube, sein Liebling sei noch am Leben, die junge Frau brauchte nicht mehr vor Furcht zu vergehen und Sie, Herr Doktor, würden sicher sehr von ihm protegiert werden. Und schliesslich, um auch uns noch zu nennen, mein Mann und ich, wären mit unserer Kleinen eine schwere Verantwortung los. Wir erwogen gerade vorhin, als Sie kamen, ob wir nicht noch gewissermassen im letzten Augenblick das Kind einem Waisenhaus oder einer Familie übergeben sollten.“
Sie redete und redete, liess den Männern wenig Gelegenheit, sich zu äussern. Sie schilderte immer wieder die Vorteile des Vorschlages, der Just Frank anfangs nicht der Erwägung wert geschienen und nun, je weiter Nelly Brown sprach, je klarer ihm die Möglichkeit ward, schon wie eine Verlockung vor ihm stand.
Nelly Brown lächelte: „Uns allen wäre mit einem Schlage geholfen und es würde dabei niemand, aber auch niemand, nur der geringste Schaden zugefügt. Ausserdem liesse sich alles verhältnismässig leicht arrangieren, wenn wir einig sind. Wie in einem Theaterstück aufs Stichwort könnte alles klappen.“
Just Frank, der anfangs mehrmals ein heftiges Wort auf der Zunge gehabt, mit dem er die ganz dem Ausmalen ihres Planes Hingegebene unterbrechen wollte, ertappte sich schon dabei, das, was Nelly Brown vorschlug, zu überlegen.
Er sah sich plötzlich einer ganz gewaltigen Verlockung gegenüber.
Liess sich der Vorschlag verwirklichen, so war tatsächlich allen Beteiligten mit einem Schlage geholfen. Die arme Karola Overmans hatte ein gesundes kleines Mädel, an das sie Mutterliebe verschwenden durfte, das ihr zu Frieden und Ruhe mit Lamprecht Overmans verhalf, die kleine Waise fand eine schützende Heimat und Eltern, das Tänzerpaar war eine Sorge los, die es allzu rasch auf sich genommen, um eine Sterbende in Frieden einschlafen zu lassen und er, nun er würde sich bestimmt Lamprecht Overmans vollster Gunst erfreuen dürfen und durch diese Gunst bald ein gesuchter Arzt werden.
Er blickte die Frau neben sich plötzlich scharf an.
Vielleicht zu scharf.
Nelly Brown war in ihrem vielbewegten Leben genügend Menschenkennerin geworden, um den Blick richtig zu deuten.
Sie sagte ruhig: „Verehrter Herr Doktor, Sie grübeln jetzt nach, ob man mir, respektive ob man dem Ehepaar Brown wohl trauen darf. Wir könnten später Erpressergelüste verspüren und so weiter. Nicht wahr, das ging soeben durch Ihren Kopf?“
Just Franks stark abwehrende Handbewegung, sein fast zu lauter Protest: „Aber ich bitte Sie, verehrte Frau Brown!“ halfen ihm nichts, bedeuteten für die Frau nur eine Bestätigung.
„Also ich habe es erraten, was übrigens gar nicht schwer war,“ sagte sie, als hätte er bejaht, was er doch verneint hatte.
Sie lächelte ein bisschen überlegen.
„Wollen uns nicht mit Höflichkeitsphrasen bekomplimentieren, es hält nur auf! Also bleiben wir zunächst dabei: Sie trauen uns nicht. Den Verdacht möchte ich entkräftigen. Vor allem, Herr Doktor, wir reisen in allerkürzester Zeit ab nach London und werden kaum noch einmal im Leben die Heimat wiedersehen. Wir haben unser Brot drüben und können nicht noch einmal von vorn anfangen. Also müssen wir die Heimat schon aus Klugheitsgründen ausschalten. An der Erinnerung dieses jetzigen Aufenthaltes zehre ich bis ans Ende. Es ist ja auch nur noch die Natur, die mir hier Heimat ist, Freunde und Bekannte habe ich nicht mehr. Und das Bild meines geliebten Schwarzwaldes, das nehme ich mit im Herzen nach der grossen Stadt an der Themse. Also wir kommen nicht wieder, nie wieder, und wir denken auch nicht im geringsten daran, jetzt vielleicht ein Geschäft zu machen. Sie erzählten, das leidende Kind sei so kraftlos, es müsse allernächstens sterben. Es stirbt dann als unsere kleine Babette und Babette lebt weiter als das reiche Mädelchen. Ich versprach meiner sterbenden Nichte, gut für ihr Kind zu sorgen. Kann ich aber besser dafür sorgen, als wenn ich es in ein reiches Haus schaffe. Babette ist die letzte Verwandte, die ich auf Erden besitze, es wäre für mich eine Beruhigung, sie der gemeinen Alltagsnot entrückt zu wissen. Geld, Herr Doktor, oder sonst eine Entschädigung in irgendwelcher Form, erbitte ich weder, noch würde ich sie annehmen. Das dürfte Ihnen vielleicht schon eine kleine Garantie dafür sein, dass nicht Geldgier die Triebfeder zu dem Plan ist, den ich Ihnen in weiten Umrissen unterbreitete, den ich aber auch schon in seinen Einzelheiten übersehe, mit denen ich gern dienen will, wenn Sie meinem Vorschlag genügend Interesse, und mir genügend Vertrauen entgegenbringen.“
Harry Brown fuhr sich mit einem etwas grellen gelbseidenen Taschentuch über die Stirn.
„My dear, deine Phantasie ist dir durchgegangen, lass das Thema fallen, please, der Herr Doktor muss sonst wirklich glauben, du willst mit den Kindern einen Tausch, nach dem Rezept eines Kitschfilms, in Szene setzen.“
Ihm war, trotz seiner anfänglichen Begeisterung, die er laut geäussert, doch längst angst und bange geworden.
Nelly war so recht die Frau dazu, das, was sie als Plan vorgetragen, in die Tat umzusetzen.
Und er machte nicht mit, so verlockend die Geschichte auch scheinen wollte.
Brenzlich blieb so etwas auf alle Fälle.
Die Augen der Frau sprachen ganze Bände, als sie sich nun dem Lebensgefährten zuwandten, aber mit Worten war sie ihm gegenüber jetzt sparsam.
„Harry, my old boy, misch dich nicht ein, du weisst ein für allemal, wo es darauf ankam, war ich von uns beiden noch immer die Gescheitere.“
Ihre Augen wanderten wieder zurück zu dem Besucher.
„Vor allem, Herr Doktor, weiss ich Ihren Namen nicht —“
Er fiel ihr hastig ins Wort: „Verzeihung, Frau Brown, aber ich nannte ihn doch vorhin.“
Sie nickte zustimmend.
„Allerdings, aber Sie murmelten ihn etwas undeutlich und ich verstand ihn nicht, mein Mann sicher ebensowenig.“ Sie machte eine abwehrende Bewegung. „Bitte, wiederholen Sie ihn nicht. Wir brauchen gar nicht erfahren, wie Sie heissen. Das soll Ihnen eine Garantie mehr sein, dass wir Sie, wenn wir über meinen Plan einig werden, niemals behelligen würden. Wir wissen ja auch bis jetzt nicht, wie das kränkliche Kind heisst und nicht, was sein Vater und der gefürchtete Grossvater sind, wissen auch nicht, in welchem Orte Deutschlands die Herrschaften und Sie, Herr Doktor, leben, ja, wir wissen nicht einmal, wo das betreffende Kind mit seiner Begleitung hier im Schwarzwald wohnt. Ich nehme an in Titisee, vielleicht aber auch in Höhenschwand oder St. Blasien. Wir brauchen es ebensowenig zu wissen, wie das andere, wir wollen nur wissen, dass wir der Sorge um die kleine Babette enthoben sind