Karola wollte eine empörte Antwort geben, aber ein Blick auf das in ganz leisem Schlummer liegende Kind, das ein lautes Wort aufschrecken konnte, liess sie schweigen.
Ihre Empörung mühsam meisternd, ging sie in das Wohnzimmer.
Schluchzend fiel sie ihrem Manne um den Hals.
„Günter, die grässliche Person, die Nurse, ist kaum noch zu ertragen. Deinen Vater informiert sie hinter unserem Rücken, verklatscht uns anscheinend, und mich behandelt sie ganz von oben herab. Weigert sich einfach, das Kinderzimmer zu verlassen, macht mir klar, dass ich lieber wieder gehen sollte, beruft sich auf deinen Vater. Und ich wollte so gern ein Weilchen still an Trautchens Lager sitzen, ihren Schlummer bewachen und dabei den lieben Gott, wie schon so oft vorher, wieder um die Gnade des Wunders bitten.“
Es klopfte. Just Frank trat auf das Herein ins Zimmer, und das verstörte Gesicht der reizvollen Frau fiel ihm sofort auf.
Er erfuhr denn auch den Grund und zornig entschlüpfte es ihm: „Machen Sie doch kurzen Prozess und werfen Sie das unverschämte Weibsbild einfach hinaus!“
Karola blickte ihn förmlich entsetzt an und wehrte ab.
„Aber ich bitte Sie, Herr Doktor, das wäre wohl fast wie Auflehnung gegen den Vater!“
Sie ging in die Schlafstube hinüber, weil sie fühlte, wie sehr ihre Nerven rebellierten. Sie vermochte jetzt keine Unterhaltung mit dem Doktor zu führen. Durch den Brief und das dreiste Benehmen Hedwig Ritters war sie sich wieder so recht ihres Kummers bewusst geworden.
Sie sank vor einem der kleinen Stühle unwillkürlich in die Knie, und die Hände faltend, betete sie, während tränenloses Schluchzen ihren ganzen Körper erschütterte, aus tiefstem Herzen emporsteigend: „Lieber guter Himmelsvater, bitte, mach mein Kind gesund. Rette es!“
Sie verbarg das Antlitz in den Händen, denn sie glaubte die verächtlichen Blicke Lamprecht Overmans auf ihrem Gesicht zu fühlen.
O, brauchte sie nur nie mehr vor ihn hinzutreten, nie mehr.
Sie vergass in ihrer geduckten Stellung Zeit und Ort, verlor sich in ein Labyrinth von traurigen Grübeleien.
Und nebenan sagte Günter Overmans zu dem Doktor: „Meine Frau reibt sich bei der ständigen Erregung auf. Irgendwie muss da endlich Wandel geschaffen werden! Es wird sowieso nicht mehr lange gehen zwischen meinem Vater und meiner Frau. Wenn unser Mädelchen nicht mehr sein wird, liegt für meine Frau ja völlig alles trostlos, denn um des von ihm vergötterten Kindes willen würde mein Vater wohl allmählich seine Art und Weise gegen meine Frau ändern und es wäre immerhin noch ein leidliches Verhältnis zwischen den beiden zustandegekommen.“ Er seufzte. „Ich muss natürlich zuerst an meine Frau denken, denn ich habe sie ja so über alles lieb, und leicht ist es nicht, das schöne Heim in Stuttgart aufzugeben und hineinzuspringen ins Ungewisse, ein geliebtes Wesen mithineinzureissen in Unsicherheit und Not und wer weiss in was für schwere Sorgen.“
Just Frank neigte den Kopf.
„Ich verstehe Sie, Herr Overmans, aber ich meine, Sie sollten nicht gleich daran denken, all die Daseinssicherheit, die Sie jetzt besitzen, hinzuwerfen und ein zartes, feines Geschöpf, wie Ihre Gattin, vielleicht der gemeinen brutalen Alltagsnot auszusetzen. Sie sollten lieber um das, was jetzt noch Ihr Eigen ist, kämpfen. Gerade um Ihrer Frau willen! Es ist sogar Ihre Pflicht. Ein einziges Mal lebt man nur, und wenn es auch wohl arme und reiche Menschen auf der Welt von je gegeben hat und weiter geben wird, ist es doch vorzuziehen, zu den reichen zu gehören. Namentlich wenn man so eine Frau hat, wie Sie.“
Mit vielen anderen Worten wiederholte er ihm mehrmals dasselbe, lockte dadurch die fast kläglich klingende Frage hervor: „Was aber soll ich nach Ihrer Meinung tun, Herr Doktor? Ich sehe keinen anderen Ausweg als den, mit meinem Vater zu reden, um meine Frau zu schützen. Und das ist in unserem Fall gleichbedeutend mit einem Bruch zwischen ihm und mir, mit einem Schlussstrich, den ich unter die Vergangenheit machen muss.“ Sein Selbstbewusstsein meldete sich. „Ich fülle doch meinen Platz in Vaters Unternehmungen aus, ich arbeite von meinem achtzehnten Jahre an bis jetzt, wo ich zweiunddreissig bin, kaufmännisch sowohl in seiner Pianofabrik, als auch in der Brauerei. Nur ein paar kurze Auslandsaufenthalte fallen dazwischen, um gründlich Sprachen zu erlernen, in fremden Betrieben mitzuarbeiten. Auch in Vaters Betrieben habe ich praktisch mitgeschafft, habe alles von Grund auf erlernen müssen und durchackern, wie ein Lehrling. Nichts hat er mir geschenkt, nicht das Langweiligste und Unangenehmste! Also ich glaube ohne Ueberhebung sagen zu dürfen: Ich kann etwas. Und da werde ich auch wohl anderswo mein Brot finden, Brot für Frau und Kind.“
Er stutzte bei dem letzten Wort, wiederholte es, und dann irrte ein trauriges Lächeln um seinen Mund.
„Aber das ist es ja gerade, das Kind schaltet schon aus, denn um das Kind geht es ja eigentlich nur. Bliebe es am Leben, gäbe es die Zukunftssorgen doch gar nicht.“
Der Doktor stand dicht neben Günter Overmans. Die beiden hatten bisher schon leise gesprochen, nun aber dämpfte Just Frank die Stimme bis zur äussersten Grenze herab, ohne deshalb auch nur im geringsten undeutlich zu werden.
„Nur auf das Kind kommt es an! Wird das Kind gesund, bringt es dem Grossvater rote Bäckchen und blanke Augen heim, erübrigt sich jede Zukunftssorge. Deshalb muss das Kind am Leben bleiben, muss frisch und gesund werden.“
Das verdüsterte Gesicht Günter Overmans erhellte sich jäh. Es war, als zöge man einen Vorhang davor fort.
„Liebster Doktor,“ stiess er atemlos hervor, „Sie erwecken in mir eine wundervolle Hoffnung, bitte, schnell, sprechen Sie, wird Trautchen wieder gesund werden?“
Just Frank half sich mit einer unbestimmten Kopfbewegung.
„Nein, leider nein, und trotzdem auch ja. Es kommt dabei nur auf Sie an!“
Der andere blinzelte nervös.
„Ich bin viel zu erregt jetzt, um Rätsel lösen zu können und ich bitte Sie deshalb, deutlicher zu sprechen.“
„Sind Sie imstande, mir ruhig zuzuhören, sind Sie imstande, Empörungsrufe zu unterdrücken und mir nicht im ersten Zorn völlig falschen Verstehens vielleicht Grobheiten zu sagen, die uns trennen müssten, Herr Overmans? Was mir sehr, sehr leid täte, denn ich möchte Hausarzt bei Ihrem Vater und Ihnen bleiben. Das ist meine Reklame, meine Brücke zur Karriere.“
Sehr eindringlich klang alles, trotz der verhaltenen Stimme.
Günter Overmans blickte befremdet.
„Das klingt alles so verwirrend, aber ich verspreche gern, wie auch die Rätsellösung lauten möge. Ihnen ruhig zuzuhören. Selbst dann, wenn Sie mir vorschlagen sollten, unser Trautchen bei meinem Vater durch eine genialgescheite Puppe zu ersetzen, die er für seinen Liebling hält. Puppen, die ‚Mama‘ wimmern, gibt es ja, vielleicht lassen Sie eine konstruieren, die ‚Opapa‘ ruft und sonst noch allerlei verzapft.“
„Beinahe besorgen Sie das Rätsellösen schon allein,“ gab Just Frank zurück, „nur dass ein echtes kleines Menschlein einer derartigen Puppe entschieden vorzuziehen wäre, ein Mädchen mit den Zügen Trautchens, ein kleines Fräuleinchen, das ihr gleicht wie eine Zwillingsschwester.“
Günter Overmans’ beide Hände hoben sich langsam in entsetzter Abwehr.
„Sie denken dabei an das Kind aus Schluchsee!“ Und er fragte: „Also haben Sie es inzwischen auch gesehen?“
„Gesehen und mit ihm gesprochen,“ erwiderte der Doktor, „mit den Verwandten des Kindes habe ich mich sogar sehr lange unterhalten.“ Er unterbrach sich. „Aber wenn es Ihnen recht ist, Herr Overmans, wollen wir uns lieber setzen, denn ich muss Ihnen viel erzählen. Aber leise will ich weitersprechen, denn niemand darf auch nur ein Sterbenswörtchen davon hören.“
Günter Overmans nahm mechanisch Platz und ihm gegenüber sass nun der Arzt und erzählte ihm von der Begegnung mit der kleinen Babette und von seiner seltsamen Unterhaltung mit der