Er war voll Mitgefühl, aber er musste sich hüten, seinem Mitgefühl folgend, neue Hoffnungen zu erwecken, sonst kam die arme, schon so zermürbte Frau gar nicht mehr aus dem Hangen und Bangen heraus.
Er schloss gütig zuredend: „Je besser Sie sich auf alles vorbereiten, um so leichter wird sich der unvermeidliche Zusammenstoss mit dem Schwiegervater gestalten, gnädige Frau.“
Karola blickte ins Weite und der Klang ihrer Stimme war dumpf von vielen mühsam verhaltenen Tränen.
Sie rang die Hände.
„Wenn Lamprecht Overmans Ihnen böse Dinge sagt, können Sie ungehindert Ihre Wege gehen, Sie dürfen nur dabei nicht an Ihre Karriere denken, ich aber muss mir sagen lassen, was für ein Elendswurm ich bin und dass ich allein die Schuld trage an der Krankheit oder meinetwegen Schwächlichkeit des Kindes. Dazu kommt noch sein Hohn, der scharf und ätzend ist.“ Sie schlug die Hände vor das Gesicht. „Ich werde also unser liebes behagliches Heim am Herdweg niemals wiedersehen, denn ich wage mich nicht mehr heim, nie mehr, mag werden daraus was will.“
Günter Overmans legte den Arm um die Schultern der masslos Erregten.
„Süsses, Liebes, denke doch jetzt nicht daran, es ist ja, gottlob, noch nicht soweit und wenn der Doktor nicht kann, so wollen wir beide wenigstens vorläufig noch auf das ersehnte Wunder hoffen. Und jetzt schlage ich vor, wir vertauschen die Stube, die ganz durchseucht ist von den Bazillen unserer Angst, mit dem Aufenthalt in Gottes freier Natur. Komm mit ins Freie, mein Lieb! Dort draussen unter dem lachenden blauen Himmel wirst du ruhiger werden, dich in dir selbst wieder besser zurechtfinden. Unser Doktor ist wohl so gut und bleibt bei dem Kind, zu unsrer Beruhigung.“
Karola hörte apathisch zu, nickte schliesslich.
Im nächsten Augenblick wandte sie sich dem Arzt zu.
„Herr Doktor, bitte, sprechen Sie nur nicht allzu deutlich zu der Nurse von dem, was Sie für das Kind befürchten. Sie ist durch die Protektion meines Schwiegervaters in ihrem Benehmen mir gegenüber schon jetzt reichlich dreist, und ich fürchte, wenn Sie ihr die Gewissheit geben wie uns, dann schreibt sie nach Stuttgart und mein Schwiegervater kommt sofort.“
Sie bebte vom Kopf bis zu den Füssen.
„Ich verstehe Sie vollkommen, gnädige Frau,“ gab Just Frank zurück, „und ich bin mir über den Charakter dieser Hedwig Ritter längst nicht mehr im Zweifel. Sie fühlt sich in der Protektionssonne Herrn Overmans Senior ausserordentlich und trumpft auch mir gegenüber auf. Aber sie ist eine vorzügliche Kinderpflegerin und zurzeit eigentlich unersetzlich.“
Karola dachte, dass sie überhaupt nicht wagen würde, die Scheinheilige zu entlassen, gerade weil Lamprecht Overmans ihr besonders wohlwollte.
Der Doktor lächelte ein wenig.
„Fräulein Hedwig Ritter hörte bisher aus meinem Munde nur Günstiges über Trautchens Befinden. Und so werde ich es auch weiterhalten.“
Während ihr Mann das Auto holen wollte, das in einer Hotelgarage untergestellt war, suchten Karola und der Arzt den kleinen Garten der Villa auf, der im buntesten Blumenschmuck prangte.
Hedwig Ritter erzählte dem Kinde, das, mit halbgeschlossenen Augen im Liegestuhl hingestreckt, zuhörte, ein Märchen. Ein paar Feen kamen darin vor und eine arme Prinzessin.
Als das Kind die Mutter bemerkte, öffnete es die Augen zu voller Grösse und lächelte ihr entgegen.
Wie blass die Kleine heute wieder aussah, kaum war es Karola vorher so unbarmherzig deutlich aufgefallen.
Aber die etwas zu vollen und von der Röte der Gesundheit gleichmässig bemalten Wangen der Nurse liessen das Kindergesichtchen doppelt bleich erscheinen.
Karola beschäftigte sich mit dem Kind, plauderte ihm lachend und scherzend allerlei vor, während ihr zumute war, als müsse ihr das Herz brechen.
War es nicht unverantwortlich von ihr, das totgeweihte Kind auch nur für kurze Zeit zu verlassen?
Schon war sie entschlossen, nicht mit Günter auszufahren, als die Autohupe ertönte und gleich darauf ihr Mann in den Garten trat.
„Komm, Karola, wollen unsere Spazierfahrt antreten.“
Sein Blick flehte sie dabei an, weil er ahnte, sie hatte es sich wieder anders überlegt.
Just Frank bat drängend: „Fahren Sie mit Ihrem Mann, gnädige Frau, eine nette, etwas weitere Autotour wird Ihnen gut tun. Ich verschreibe sie Ihnen als Rezept.“
Hedwig Ritter mischte sich ein.
„Die gnädige Frau ist entbehrlich, ich gehe ja ganz in Trautchens Pflege auf, nach den Anweisungen Herrn Overmans Senior.“
Wie anmassend sie es hinwarf.
Der Doktor hielt ihr kühl entgegen: „Ich glaube aber, Herrn Overmans Senior ist am besten damit gedient, wenn Sie sich an meine, die ärztlichen Anweisungen halten, im übrigen kann die beste Pflegerin nicht die Mutter ersetzen.“
Die Nurse hatte etwas schrägstehende hellbraune Augen, auch die Brauen zogen sich, nach den Schläfen zu, schräg hinauf.
Das gab dem Gesicht ein wenig den Typ der Kalmückin.
Klein-Trautes Fingerchen spielten mit dem Medaillon, das sie um den Hals trug.
Verirrte Sonnenstrahlen, die sich durch die dichten Zweige der Gartenbäume schoben, liessen die winzigen Smaragden und Brillantchen auf dem aus Gold und Platin gearbeiteten Kleeblatt hell aufsprühen in grünem und buntem Feuer.
Die Kleine kommandierte: „Mache das goldene Ding auf, Mutti!“
Wie oft hatte Karola „das goldene Ding“ schon aufmachen müssen.
Und sie wusste auch genau, was dann für weitere Kommandos aus Trautchens Mund folgen würden.
Wie schon so oft vordem, hob die Kleine auch heute das geöffnete Medaillon an die Lippen und küsste das auf Elfenbein gemalte Gesicht Lamprecht Overmans.
Wie schon so oft vordem, hielt sie ihr danach auch heute das geöffnete Medaillon entgegen und sagte wichtig: „Nu bist du dran, Mutti, nu musst du den lieben Opapa auch küssen und ihn mächtig toll lieb haben!“
Dann küsste sie, wie es Trautchen verlangte, das lächelnde Männergesicht, das sich ihr im Leben noch niemals freundlich zugewandt, legte das Medaillon, zärtlich tuend, an die Wange und streichelte es in etwas übertriebener Weise.
Die beiden letzten Bewegungen umfassten nach Trautchens Anweisung das mächtig tolle Liebhaben.
Heute kommandierte sie: „Musst den Opapa aber noch viel mehr toll liebhaben, Mutti, er hat das so schrecklich gern.“
Es blieb Karola nichts weiter übrig, als das Bildchen Lamprecht Overmans noch viel mehr toll lieb zu haben.
Und sie dachte dabei, wenn er jetzt sähe, was sie tat, würde ihr sein Hohn die hellen Tränen aus den Augen beizen.
Ein unverkennbarer Spottblick der Nurse beendete das tolle Liebhaben.
Sie sagte, emporgejagt von diesem Spottblick, zu ihrem Manne, sie wäre zur Ausfahrt bereit und küsste das Kind auf die Stirn.
Dem Doktor, der bei der Kleinen bleiben wollte, reichte sie die Hand und war froh, jetzt fortzukönnen, der stumme Spott Hedwig Ritters war unerträglich gewesen.
4. Kapitel.
Vor der Gartentür stand der dunkelblaue Benzwagen, Karola nahm neben Günter Platz und gleich darauf sauste das Auto auch schon dahin.
Karola hatte keinen Hut aufgesetzt und der leichte Wind spielte mit ihren losen, lockigen Scheitelhaaren und dem goldnen Gewirr im Nacken, das sich aus dem kleinen weichen Knoten stahl.
Der