Anny von Panhuys
Die Namenlose
Schicksal eines vertauschten Kindes Bd.1
Roman
Saga
Die Namenlose - Schicksal eines vertauschten Kindes Bd. 1
© 1927 Anny von Panhuys
Alle Rechte der Ebookausgabe: © 2016 SAGA Egmont, an imprint of Lindhardt og Ringhof A/S Copenhagen
All rights reserved
ISBN: 9788711570524
1. Ebook-Auflage, 2017
Format: EPUB 3.0
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1. Kapitel.
Karola Overmans hübsches Puppengesicht war über und über von Tränen nass, förmlich gebadet hatten sich Wangen und Kinn in der Tränenflut, die nicht versiegen wollte.
Ihr Mann lief mit grossen Schritten im Zimmer umher, in dem mit allerlei luxuriösem Tand vollgestopften Damenzimmer, wo sich seine Frau am allerwohlsten fühlte.
Die zierliche Karola schluchzte zum Erbarmen.
„Was soll nur werden, Günter? Lieber, einziger Günter, was soll nur daraus werden? Trautchen wird jeden Tag weniger, ich habe es Dr. Frank heute deutlich angesehen, er glaubt nicht mehr an ein Besserwerden. Und wenn Trautchen sterben müsste —“
Sie rang die kleinen schmalen Hände und die Erregung versetzte ihr den Atem.
Sie packte ihren Mann am Aermel, krampfte sich darin fest.
„Um des Himmelswillen, Günter, höre endlich auf, durch das Zimmer zu marschieren, das macht mich so nervös, dass ich kaum noch weiss, was ich rede.“
Günter Overmans fuhr mit seinem Taschentuch leicht über das verstörte Antlitz der geliebten Frau.
„Liebste Karola, bitte, rege dich nicht so furchtbar auf, damit verschlimmerst du ja nur alles! Bedenke, wenn zum Beispiel mein Vater jetzt gerade hereinkäme und dich in diesem völlig aufgelösten Zustand sähe!“
Sie hob mit einem Ruck den Kopf und ein leichter Entsetzensschrei entrang sich ihr.
„O, Günter, wäre das furchtbar, wenn dein Vater mich so überrascht hätte. Dann hätte er mir bestimmt wieder viele böse Worte gegeben und behauptet, ich sei schuld, dass Trautchen krank ist.“
Günter Overmans strich über ihr leichtgewelltes hellblondes Haar, fragte fast heftig: „Was hat er dir denn wieder für Liebenswürdigkeiten gesagt?“
Sie hob den Blick.
Dunkelblaue grosse Augen besass Karola, aber die Lider, vom vielen Weinen rot und angeschwollen, nahmen den blauen Sternen alle Schönheit. Und um den Mund zuckte es schon wieder verdächtig, als bereiteten sich neue Tränenströme vor.
„Er hat gesagt, ich sei körperlich so ein Elendsmenschlein, so eine erbärmliche Hand voll Kleider mit nichts darin als ein paar Hühnerknochen, dass er dich nicht begreife und ihm das Kind leid tue, das mich Mutter nenne. Zum Glück verfüge das Kind ja über ein kräftigeres Knochengerüst und sei deshalb, und auch seinem Gesicht nach, ein echtes Overmanskind und er hoffe darum, es würde sich von seiner Schwäche erholen. Wenn es aber stürbe, sei das Selterswasser daran schuld, das in meinen Adern an Stelle von gesundem, rotem Blut laufe.“
Sie schluchzte schon wieder.
„Fast wörtlich hat er das zu mir gesagt, und als ich etwas entgegnen wollte, hat er mich angeschrien, er habe nun mal einen Narren an dem Kind gefressen und mit Trautchens Existenz stehe und falle die deine und die meine.“
Sie schlang die Arme um den Hals des vor ihr Sitzenden.
„Du kennst ja deinen Vater, weisst, er kann mich nicht leiden, und wenn es nicht um des Kindes willen wäre, könntest du mit mir hingehen, wo du wolltest. Seine Abneigung gegen mich ist so stark, weil du mich eigentlich gegen seinen Willen geheiratet hast, dass er auch auf dich keine Rücksicht nehmen würde.“
Günter Overmans nickte traurig.
„Leider ist Vater in vielen Dingen sehr hart und wir können im Grunde noch froh darüber sein, dass unser kleines Mädel sein ganzes Herz erobert hat. Unbegreiflich will es mir sogar manchmal scheinen. Alle die Liebe, um die ich als Kind und Heranwachsender vergebens bei ihm geworben, die schenkte er freiwillig unserer Kleinen.“
Sie lehnte ihre Wange fest an sein ihr zugeneigtes Gesicht.
„Gottlob, ist so ein Ausfall selten, meist beachtet mich dein Vater gar nicht, er hat zuweilen eine Art, über mich wegzugucken, die fast so wehe tut wie seine Zunge.“
Günter Overmans besann sich auf wirksame Trostworte, als es klopfte.
Die beiden sich umschlungen Haltenden fuhren auseinander und Karola sprang auf, wandte sich dem Fenster zu.
Es brauchte niemand zu sehen, wie sehr sie geweint hatte.
Das Mädchen trat ein, meldete mit einer Stimme, die förmlich von Respekt durchtränkt war: „Herr Overmans Senior ist eben gekommen und gleich zu dem Kind gegangen.“
„Schön!“ Günter winkte dem Mädchen, sich gleich wieder zu entfernen, und als sich die Türe geschlossen, nahm er den Kopf seiner Frau in beide Hände.
„Mut, du kleiner zusammengebrochener Lebenskamerad! Wasch dir die schönen geliebten Guckerln klar. Er darf nichts von unserer Angst ahnen, sonst trampelt er noch mehr auf uns herum, wie es leider schon geschieht. Und das Schlimmste ist es, sich nicht dagegen wehren zu können!“ In seinen grauen Augen blitzte es auf. „Zuweilen möchte ich es darauf ankommen lassen, möchte ihm entgegenrufen: Entweder respektierst du die Frau, die ich lieb habe, wie es sich gehört, oder ich werfe dir alles vor die Füsse, laufe mit Frau und Kind in die Welt hinein, erobere mir mit meinen beiden Händen ein bescheidenes Glück.“
Karola starrte ihn entsetzt an.
„Liebster, bester Günter, geradezu Wahnsinn wäre es, wenn du das tätest! Und auf ihn würde es nicht einmal Eindruck machen. Oder vielleicht doch,“ überlegte sie, „weil er das Kind dadurch verlöre. Das mit dem bescheidenen Glück erobern, ist etwas sehr Unsicheres. Wie wenigen gelingt es! Deine Liebe und Besorgnis gleicht ja alles, was mir dein Vater antut, reichlich wieder aus.“
Er war froh, sie wieder ruhiger zu sehen und küsste sie zärtlich.
Karola huschte in das mit allen Bequemlichkeiten eingerichtete Badezimmer. Dort wusch sie sich das Gesicht mit heissem Wasser, das Tränenspuren viel leichter auslöscht wie kaltes, spülte mit kühlem Wasser nach und bediente sich einiger kosmetischer Mittel.
Danach fühlte sie sich leidlich frisch, und nach prüfendem Blick in den Spiegel verliess sie die Badestube nach dem Korridor zu.
Einen Augenblick blieb sie tiefaufatmend draussen stehen.
Sie hörte hinter der Tür gegenüber sprechen, eine rauhe, harte Stimme fuhr eben über eine Antwort ihres Mannes hin wie mit grobkörniger Feile.
Karola hätte am liebsten Kehrt gemacht.
Die Angst vor Lamprecht Overmans, ihres Mannes Vater, bäumte sich wieder in ihr auf. Diese Angst, die ständig in ihr war, seit sie dem Gefürchteten zum ersten Male gegenübergestanden.
Sie war eine blutjunge arme Waise gewesen, als sie hier nach Stuttgart zu einer alten vornehmen Dame als Gesellschafterin kam, in deren Haus sie Günter Overmans kennen und lieben lernte, der sie aber erst nach vielen aufreibenden Auseinandersetzungen mit seinem Vater heiraten durfte. Sie war von einer geizigen und engherzigen Tante in einem abgelegenen württembergischen