Die Namenlose - Schicksal eines vertauschten Kindes Bd.1. Anny von Panhuys. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Anny von Panhuys
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9788711570524
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zu werden. Ihr Vater wird der Beklagenswerten diese Ruhe und diesen Frieden nicht gönnen. Wir brauchen uns ja darüber nichts vorzumachen. Es kann sogar geschehen, Ihre Frau glaubt schliesslich noch, seine Vorwürfe zu verdienen und belastet ihr überreiztes Hirn damit. Ihre Frau ist sehr zart und so könnte es möglich sein, dass sie, die durch die Reden Ihres Vaters schon mürbe gemacht ist, nach dem Verlust des Kindes ganz verwirrt würde. Sie leidet schon an einer Art von Verfolgungswahn durch Ihren Vater. Wenn das Gespräch auf ihn kommt, zuckt sie zusammen und zittert.“

      Er brach ab, sagte nach einem Weilchen, anscheinend ganz unzusammenhängend mit dem Vorherigen: „Es ist ein gesunder Menschenschlag, der hier im Schwarzwald zur Welt kommt, die kleine Babette ist selbst wie ein derbes stämmiges Tannenbäumchen.“

      Günter Overmans sah vor sich nieder.

      Scheu flüsterte er: „Ich wage es nicht, meiner Frau davon zu sprechen.“

      „Es ist vielleicht gar nicht so schwer, wie Sie glauben,“ ermunterte Just Frank.

      „Ich werde es bei nächster Gelegenheit versuchen,“ kam es gepresst zurück. „Da Sie mir wiederholt versicherten, es sei keinerlei Gefahr mit der Ausführung des Planes verbunden, so willige ich in alles, wenn meine Frau einwilligt. Nur Ruhe soll sie endlich haben, jetzt und für die Zukunft!“

      Seine Stimme war voll Qual.

      „Sie will es ja durchaus zu keinem Zerwürfnis zwischen dem Vater und uns kommen lassen, und ich wage es nicht, weil ich ihr keine Garantie bieten kann, dass ich ihr, wenn ich mich vom Vater lossage, der sie quält, auch nur ein leidlich sorgloses Leben zu bieten vermag. Und sie soll und darf nicht in Not geraten.“

      Just Frank neigte sich ganz nahe dem Ohr des anderen und wiederholte die Einzelheiten des Planes. Er betonte: „Trautchen ist schon viel zu schwach, um noch lange leben zu können. Die Browns bleiben in Deutschland, bis — nun ja, und mit den Papieren der kleinen Babette geht Trautchen zur ewigen Ruhe! Am besten ist’s natürlich, möglichst bald hier fortzureisen und uns wo anders mit den Browns zu treffen, Tür an Tür mit ihnen zu wohnen und offiziell die Kinder schon mit den Namen zu vertauschen. Da niemand etwas ahnt, wird niemand misstrauisch werden.“

      Günter Overmans sass schweigend. Er leistete gar keinen Widerstand mehr. Mochte das geschehen, was er zuerst ein Verbrechen genannt, mochte es geschehen, wenn Karola einverstanden war.

      Aehnliches geschah vielleicht öfter auf der Welt aus mehr oder weniger egoistischen Gründen. Ein Mensch starb, ein anderer, ihm äusserlich ähnlich, nahm seinen Platz ein und die Welt ging deshalb nicht aus den Fugen. Nicht eine einzige Schwarzwaldtanne stürzte, wenn Trautchen starb, und die mollige kleine Babette Karola und ihn Mutter und Vater nannte.

      Er erhob sich. Er wollte es jetzt des Grübelns und Simulierens genug sein lassen, er fühlte sich matt und benommen.

      „Wir wollen umkehren, Herr Doktor, sonst ängstigt sich meine Frau vielleicht über mein langes Ausbleiben.“

      Er blickte zu den flimmernden, flirrenden Sternen auf, die in silberner, klarer Teilnahmelosigkeit so hoch über all dem Leid der Menschen stehen. In dieser köstlichen Sommernacht schienen die Sterne da droben heller und zahlreicher denn je, aber von keinem einzigen floss Trost und Wärme nieder in das Herz des Mannes, der schwer gekämpft zwischen Gattenliebe und Vaterliebe.

      Schweigsam gingen die beiden späten Spaziergänger durch die prächtigen Anlagen an der Alb, und sie trennten sich mit flüchtigem „Gute Nacht“ vor dem Hotel des Doktors.

      Als Günter Overmans die Gartentür der Villa, wo er wohnte, öffnen wollte, hörte er durch Gebüsch und Hecken, die das Gartengitter von innen bekleideten, die Stimme der Nurse eben in lautem Flüsterton sagen: „Meine Madame ist ja jetzt immer wie verrückt! Jetzt sitzt sie wieder am Bett des Kindes und starrt es mit ganz unheimlichen Augen an. Mich fragte sie, ob das Kind nicht am Ende gar tot sei, ihr schiene es, als spüre sie keinen Atem mehr. Nun, Grund sich aufzuregen hat sie reichlich; wenn das Kind stirbt, kann sie sich auf etwas von dem Schwiegervater gefasst machen! Wissen Sie, Frau Blümli, sie ist eigentlich nichts anderes als unsereins gewesen. Gesellschafterin war sie bei einer alten Dame in Stuttgart. Der alte Overmans hat die Heirat zwischen den beiden auch durchaus nicht zugeben wollen, nun wischt er ihr aber bei jeder Gelegenheit eins aus. Das Kind ist merkwürdigerweise sein ein und alles, wenn das ein Engelein wird, was wohl sicher ist, möchte ich nicht in ihrer Haut stecken! Das Kind tut einem ja leid, denn der Alte ist millionenschwer und die Kleine hätte sicher mal den ganzen Krempel geerbt.“

      Also mit der Vermieterin unterhielt sich das empfehlenswerte Kinderfräulein so ungeniert über die Herrschaft. Sie schien das weise Sprüchlein nicht zu kennen: Wes Brot ich ess’, des Lied ich sing’!

      Ehe sich Günter Overmans noch recht besonnen, ob er jetzt dazwischentreten sollte, sprach Hedwig Ritter schon weiter: „Ja, sehen Sie, liebe Frau Blümli, so sieht es hinter den Kulissen aus und man braucht reiche Leute eigentlich gar nicht immer zu beneiden.“

      Die Vermieterin brummte etwas, anscheinend eine Zustimmung.

      Schon fuhr die Nurse fort: „Wenn das Kind sterben sollte, verliere ich eine sehr gute Stellung, der alte Herr hat grosses Vertrauen zu mir. Von der jungen Frau lasse ich mir nichts sagen, gar nichts! Ich werde mich auch jetzt bei Herrn Overmans senior in einem Brief beschweren, dass sie mich vorhin aus dem Zimmer gewiesen hat, weil sie mit dem Kind allein sein will. Und ich schreibe ihm auch, dass sie mich gefragt hat, ob das Kind tot wäre.“

      Im ersten Zorn wollte Günter Overmans jetzt vortreten und der abscheulichen Person gründlich seine Meinung sagen, wollte sie sofort entlassen.

      Aber schon in nächster Sekunde fand er das sehr töricht. Es hatte ja alles Zeit bis morgen, hier draussen durfte er keine Szene hervorrufen.

      Wie eigen das nur war, dass er jetzt, ohne sich auch nur im geringsten den Kopf zerbrechen zu brauchen, einen Entlassungsgrund für die Nurse hatte.

      Denn die Entlassung der Nurse spielte eine Hauptrolle in dem Plan Nelly Browns.

      Er trat jetzt absichtlich laut auf, öffnete die Gartentür mit beinahe zu viel Geräusch.

      Die zwei Klatschbasen fuhren auseinander, als hätte man einen Kübel kaltes Wasser über sie ausgeleert.

      Günter Overmans fragte mit erzwungener Ruhe: „Weshalb sind Sie nicht bei Trautchen?“

      Hedwig Ritter, die noch eben wie das verkörperte böse Gewissen dagestanden, war nach der Frage überzeugt, der eben nach Hause Gekommene hatte nichts gehört von dem, was nicht für sein Ohr bestimmt gewesen.

      Sie erwiderte sehr liebenswürdig: „Die gnädige Frau wünschte ein wenig mit Trautchen allein zu bleiben und da ging ich noch ein Weilchen in den Garten. Doch nun will ich sofort zu dem Kinde, denn ich meine, die gnädige Frau sollte sich jetzt lieber zur Ruhe begeben, ihr Nerven sind zu sehr herunter. Ich sagte eben zu Frau Blümli, wie sehr mir die arme gnädige Frau leid tut.“

      Beinahe hätte Günter Overmans ihr ein kräftiges: Pfui Teufel, Sie gemeine Lügnerin! ins Gesicht gerufen, doch er beherrschte sich wiederum und verschwand mit kurzem Gutenachtgruss.

      Frau Blümli meinte etwas vertattert: „Mir scheint, er hat was von Ihrem Geschwätz gehört!“

      Hedwig Ritter schüttelte den Kopf.

      „Ausgeschlossen! Wenn er gehört hätte, was ich sagte, wäre er eben bestimmt nicht so ruhig gewesen.“

      „Ich weisst nicht, ich weiss nicht, mir kam er nicht recht geheuer vor,“ brummelte die dicke Frau Blümli, die diese sehr gut zahlenden Kurgäste aus Stuttgart gern noch längere Zeit im Hause behalten hätte.

      Die Nurse klopfte ihr gönnerhaft auf die Schulter.

      „Keine Bange, Frau Blümli, wenn ich Ihnen versichere, er hat nichts gehört, dürfen Sie sich darauf verlassen, ich kenne meine Pappenheimer und bin eine gute Menschenkennerin.“

      7. Kapitel.

      Am Bett des Kindes sass Karola