Es wächst schon Gras darüber. Walther von Hollander. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Walther von Hollander
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9788711474570
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auf denen sich ständig Gleichgewicht und Gang erproben ließ und dessen kreisrundes Mittelstück eine immerwährende Verlockung zum Tanz war. Das Haus der Familie, um einen Großraum gruppiert, an dem die einzelnen Kammern lagen, schalldicht abgesperrt durch metallene Türen, die so schmal waren, daß immer nur ein einzelner sie passieren konnte, damit jedermann ständig daran erinnert wurde, daß ein Zimmer das absolute Herrschaftsgebiet des einzelnen war. Diese drei Typen hatte er damals skizziert. Paul aber hatte in einem langen Brief abgelehnt, an einer Aufgabe mitzuarbeiten, die vielleicht in der Renaissance ihren Sinn gehabt hätte, aber heute abwegig, skurril genannt werden müsse. Und er hatte triumphierend gemeldet, daß man ihm den Bau einer Siedlung mit zweihundertachtzig Häusern übertragen habe, eine gigantische Aufgabe, besonders weil man ihm nur zwei Jahre Zeit dafür ließ.

      Paul Wolffenau streckte sich triumphierend in seinem Sessel. Was war das für eine lustige Zeit gewesen, als er mit Plümmer, Segewold und Trantau, seinen drei Assistenten — von Gertie die Drillinge genannt —, an den Entwürfen arbeitete! Und was hatte Cassembert ihm geantwortet? Noch könne kein Architekt von Format und Gewissen eine Siedlung solchen Ausmaßes bauen, ohne trostloser, langweiliger Eintönigkeit zu verfallen. Denn noch stecke im sozialen Gedanken (dessen hindernissprengende Gewalt er nicht leugnen wolle) natürlicherweise ein Element des Neides, und der Neid veranlasse den Neider stets, sich das gleiche zu wünschen, was der andere habe, statt das zu erstreben, was er selbst originaliter für sein Leben brauche. Und dem Neid, der Gleichförmigkeit erzeuge statt der musikalischen Variationen eines natürlichen Lebensgefühls, werde Paul sich fügen müssen.

      Wolffenau hob spöttisch drohend seine Pfeife. Wie wäre es, wenn der alte Cassembert jetzt in das zertrümmerte Deutschland käme, um sein Haus des Gelehrten, sein Haus der Tänzerin und das Familienhaus mit den schalldicht abgesperrten Kinderzimmern zu propagieren? Welch ein Höllengelächter würde sich erheben unter denen, die kein noch so primitives Dach über dem Kopf hatten und zu zwei, drei Familien in Schulzimmern, Tanzböden ländlicher Gastwirtschaften auf Stroh nächtigten? Er, Paul Wolffenau, hatte also recht gehabt. Oder ...? Zunächst einmal hatte der Meister recht behalten. Die Siedlung war durch Abstriche und Eingriffe der Behörden schließlich so langweilig geworden, daß Paul die Ausführung ganz und gar den Drillingen übertrug. Und dann ... mußte man wirklich immer auf dem so bequemen Flusse der Notwendigkeit schwimmen, der einen zwar zum Erfolg trug, aber auch allzuleicht im Seichten absetzte? Mußte man nicht, wenn man das Besondere konnte, sich wenigstens zuweilen absondern, das Ungewöhnliche tun, das scheinbar Gegenzeitliche? Ach, wie leicht war es, die Unbeugsamkeit und Unbiegsamkeit des Abseitigen zu verspotten, ihn zu verkleinern, ihn unnütz zu schelten und zeitfremd. Was waren schließlich die paar Häuser, die er, Wolffenau, anständig gebaut hatte, anderes als Abseitigkeiten, für wenige überhaupt nur verständlich und dennoch fruchtbar als erste Anzeichen eines neuen Lebensstils, einer Rückführung von außen nach innen; was waren sie anders als kleine Wildtriebe, sprossend aus der großen Wurzel des veredelten, meisterlichen, früchtereichen Baumes? Wer hatte recht? Der Unbeirrbare, auch dann, wenn er starr war und starr wurde? Oder er, Paul Wolffenau, der immer auf der Jagd blieb nach Anregungen, der das Herz der Zeit schlagen hörte, seinen Rhythmus spürte und ihm Ausdruck gab, er, der Schmiegsame, Biegsame, Elegante, er, der Einfühlsame, der den unklaren Wünschen seiner Bauherren mit ein paar hinreißenden Einfällen oft schon in Sekunden den richtigen Ausdruck gab? Wie konnte er geduldig sein, langsam wachsen lassen, wenn ihn die Einfälle manchmal wie Sturzbäche überfielen? Wie konnte er still sein, wenn es ihm im Trubel der Arbeit, auf dem Markt des Erfolges so wunderbar gut gefiel?

      Er hielt die sich überstürzenden Gedanken plötzlich an. Er löschte sie aus mit einer banalen Binsenweisheit. „Die Menschen sind eben verschieden“, sagte er, wieder in das Selbstgespräch verfallend. Er wußte noch nicht, daß dieses Sprechen mit sich selbst nicht etwa eine Nothilfe des Einsamen war, sondern ein Ausweichen vor den Gedanken. Er merkte nur mit Erleichterung, daß ihn die Erinnerungen losließen.

      Das Zimmer umgab ihn wieder mit seiner trostlosen Häßlichkeit und seiner trostreichen Einsamkeit. Es war sehr heiß geworden. Er stieß das Fenster auf. Der Regen hatte nachgelassen, und im Westen zeigte sich über dem Fluß eine blaue Bahn zwischen den Wolken. Es war erst sieben Uhr, noch hell. Ein langer Abend lag vor ihm, eine lange Nacht. Aber zunächst mal waren die Kartoffeln weich. Er schüttete das Wasser ab, schälte eine nach der andern und aß sie, indem er sie in Salz stippte. Dazu trank er eine Tasse Milch. Dann beschloß er, an den Fluß zu gehn, um die neue Angelrute auszuprobieren. Er hatte auch großen Appetit auf gebratenen Fisch. Während er, die Angelrute geschultert, durch den tropfenden Wald zum Fluß hinunterstieg, beschäftigte ihn nur ein Gedanke: brät man den Fisch so, wie man ihn fängt, mit Haut und Haar also, aufgeschnitten und ausgeweidet natürlich, oder muß man zuerst die Gräten herausnehmen? Schade, daß er nie kochen gelernt hatte. Wahrscheinlich aber war es so, daß man die großen entgrätete und die kleinen ganz briet. Nun — er würde wohl nur kleine fangen.

      Er fing überhaupt keinen Fisch. Ein paarmal zuckte der Schwimmer, aber es biß kein Fisch an. Nun ist es ja beim Angeln keineswegs die Hauptsache, daß man Fische fängt, sondern daß man ab und zu mit kühnem Schwung die Leine wirft. Daß man die Augen starr auf den Schwimmer gerichtet hält und vor allem daß man das Gefühl hat, etwas ungeheuer Wichtiges zu tun. Untätig in der Natur zu sein ... dazu sind die meisten Menschen zu aktiv und nervös, und sie haben auch Angst, daß die weite Natur sie ganz wegziehen könnte, ihre so wichtige Existenz für Sekunden auslöschen.

      Wolffenau jedenfalls saß befriedigt und völlig gedankenlos am Ufer des Flusses und sah das seichte Uferwasser in kleinen Wellen sich im Schilf verfangen und weiterströmen, sah über die blendende Fläche, die sich allmählich mit den Farben des Sonnenuntergangs bedeckte, mit einem flammenden Hellgelb, einem schaumspeisenartigen Rosarot, einem türkisfarbenen Grün, bis plötzlich eine schwarze Wolkenwand alles wegwischte.

      Gleichzeitig kam ein kalter Wind über das Wasser und zwang ihn, aufzustehn. Er rollte die Angelschnur sorgfältig ein, knüpfte das türkische seidene Halstuch zu einem kunstvollen Knoten und marschierte sehr zufrieden und sehr leer hügelaufwärts auf seine Hütte zu. Er beschloß, den Tag leichtsinnig mit einer neuen Portion Tee zu beschließen, ein tüchtiges Feuer zu machen und vielleicht die erste Skizze zum Selbstporträt anzufangen. Es kam ihm viel darauf an, etwas zu tun, damit er von den verfluchten Erinnerungen loskam. Er bückte sich, weil er ein gar zu schönes Stück Holz liegen sah, einen prächtigen harzigen Tannenast, mit dem man sehr leicht Feuer machen könnte. Die Streichhölzer wurden verflucht knapp. Gut nur, daß er das Feuerzeug hatte.

      Er schulterte den Ast zu der Angel und marschierte weiter. Er überlegte, ob es nicht ernstlich Zeit sei, wieder aufzubrechen. Für immer konnte er ja nicht als Einsiedler, als ein Hieronymus im Gehäus, hier im Walde hocken und gar nichts tun, während das ganze Land voll Trümmer lag, die weggeräumt werden mußten. Während die Herren Kollegen sicher schon dabei waren, Entwürfe für den Neuaufbau der Städte zu machen. Warum drängte es ihn denn nicht, mit dabei zu sein? Hatte er etwa keine Ideen mehr, war er fertig, ausgebrannt, verbraucht? Hatte die Langeweile des Krieges — nie hatte er es für möglich gehalten, daß man sich so sehr langweilen konnte — ihn ausgelaugt, war er am Ende? — Ach — das war nur eine rhetorische Frage, eine nachhallende Frage aus seinen Anfängen damals, als er jede Idee ängstlich behütete und bewahrte, als er beweisen mußte, daß er jemand war, der Ideen hatte. Später brauchte er nur den Stift anzusetzen, dann war die Idee da, dann fiel ihm mehr ein, als gut war, dann mußte er Entwürfe über Entwürfe als Abfälle wegwerfen, die gut genug waren, daß sich ein Dutzend Dutzendarchitekten davon hätte ernähren können. Sicherlich, wenn er den Stift wieder ansetzte, würden die Ideen wieder dasein. Aber es lag ihm nichts daran. Warum nicht? Das war ihm unklar. Andererseits aber, wenn er jetzt an den langen Abend dachte, an die Nacht, die vielleicht wieder schlaflos sein würde oder von unsinnigen Träumen gestört, von ganz und gar undeutbaren Stimmen und Gesichtern, dann schien es ihm richtiger, irgend etwas zu tun, was sich als Barriere gegen die Gedanken, gegen die Erinnerungen benutzen ließ. Man konnte sich doch nicht einfach ausliefern. Oder ...?

      Was war denn eigentlich sein Talent gewesen? Doch nichts anderes als ein Ausgeliefertsein an eine Kraft, die sich seiner bediente. Die eigenen Ideen ... du lieber Gott, das war eine klägliche Geschichte, ein stotterndes Probieren, ein hilfloses Suchen,