Er wollte sich gemächlich in den Lehnstuhl setzen. Aber jetzt sah er, daß da schon jemand saß, ein älterer Herr im Lodenmantel, den grünen Jägerhut halb über die dicke Brille geschoben und in einen angenehmen Schlummer versunken. Wolffenau war wenig erfreut über den Eindringling. Er tippte ihm auf die Schulter und sagte ziemlich grob: „Was machen Sie denn hier?“
Der Herr wachte auf, nahm seinen Hut ab und enthüllte eine runde, glänzende Glatze. „Dr. Bröseke“, sagte er, sich reckend. „Dasselbe wollte ich Sie fragen.“
„Ich wohne hier, wie Sie sehn“, antwortete Paul. „Ich habe mir die Sache ein bißchen zurechtgemacht.“
Der Alte verbeugte sich: „Sehr liebenswürdig von Ihnen. Aber sind Sie nicht auf die Idee gekommen, daß dieses Häuschen jemandem gehören könnte?“
Paul lachte: „Ach so ... Sie sind, wie man das früher nannte, der Besitzer.“
Dr. Bröseke mußte nun auch lächeln. Dann sagte er: „Sie gehen ja mächtig mit der Zeit. Oder immer ein paar Tage voraus, vielleicht auch ein paar Jahre. Aber bis jetzt gilt noch das Grundbuch von Krössien. Sie können es nachschlagen, wenn Sie mal reinkommen, Band 4, Blatt 116, Besitzer des Flurstückes 6/33 Dr. Edmund Bröseke, Zahnarzt in Krössien. Das bin ich. Und danach ...“ Er wies mit einer liebenswürdigen Geste auf die Tür.
„Dr.-Ing. Paul Wolffenau, Architekt, Berlin-Dahlem“, sagte Paul. „Ich glaube, die Grundbücher von Berlin-Dahlem sind auch erhalten. So was verbrennt ja nicht. Oder haben Sie schon mal gehört, daß irgendein Amt, zum Beispiel ein Steueramt, vernichtet ist? Damals, bei dem größten Angriff auf Berlin, brannte mal so ein Kasten. Was machten die Beamten? Sie retteten unter Lebensgefahr die Akten. Vor allem natürlich die Steuerstrafsachen. Ich sah einen alten Beamten, der hat sich buchstäblich den Bart verbrannt und die Löckchen im Nacken — nur damit der Staat zu seinem Gelde kam.“
Dr. Bröseke kicherte. „Ja ... Sie haben recht, wenn einmal endlich die Superatombombe diese blödsinnige Welt auseinanderreißt und alles Lebende vernichtet ... dann kann man sicher sein, daß oben am Rand des Kraters drei Steuerämter stehenbleiben mit lauter geretteten Akten davor.“
„Ein hübsches Bild“, sagte Paul und nahm auf dem Diwan Platz.
„Das ändert aber nichts daran, Herr Wolffenau, daß die Reste dieses Häuschens mir gehören. Leider muß ich Sie auffordern, zu räumen.“
„Sicher haben Sie doch noch eine Wohnung in Krössien“, sagte Paul, „mit einer gutgehenden Praxis, wie ich vermute. Die Karies nimmt infolge der schlechten Ernährung rapide zu. Erntezeit für Zahnärzte.“
Bröseke zog seinen Mantel aus und hängte ihn an eines der Hirschgeweihe. Dabei murmelte er: „Es geht. Kann nicht klagen. Nur das Material ... man kann nur miserable Arbeit leisten. Wo wollen Sie übrigens diese Nacht schlafen?“
Paul lächelte liebenswürdig: „Sie können es sich aussuchen, Diwan oder Stuhl, falls Ihnen der Rückweg nach Krössien zu beschwerlich ist.“
Bröseke trat auf Paul zu und sagte ruhig: „Ich bleibe ein paar Tage, und ich liebe es nicht, hier draußen mit anderen Menschen zusammen zu sein. Ich habe das nie geliebt ... Das Schlafzimmer mit anderen teilen ... das Schnarchen, der Schlafatem ... schauderhaft. Und jetzt haben sie mir mein Schlafzimmer beschlagnahmt und ich mußte zu meiner Frau rüberziehn. Nach fünfunddreißigjähriger Ehe — ein hartes Schicksal. Aber machen Sie das mal einem Flüchtlingsbetreuer klar. Und nun komm ich hier heraus und finde Sie vor.“
„Ohne mich hätten Sie hier überhaupt nicht schlafen können. Es regnete durch. Den Diwan habe ich erst in der Sonne getrocknet. Sie hätten ihn verschimmelt vorgefunden und hätten hier Schwimmübungen machen können. Haben Sie das gar nicht bedacht?“
Bröseke setzte sich seufzend auf den Lederstuhl. „Was hat ein Jagdhaus mit Krieg zu tun“, jammerte er. „Wie konnte ich auf die Idee kommen, daß ausgerechnet hier gekämpft worden sei? So ein Unsinn.“
„Wollen Sie etwa auf die Jagd gehen?“ erkundigte sich Paul.
Bröseke schnaufte nur: „Ohne Gewehr! Drei Stück haben die Engländer mir beschlagnahmt.“
„Was machen wir nun?“ sagte Paul. „Das Haus gehört laut Grundbuch Ihnen. Aber es ist nicht bewohnbar.“
„Na, hören Sie mal“, fuhr Bröseke auf, „ich finde es recht wohnlich und gemütlich hier, abgesehn von der Tatsache, daß Sie hier sind.“
„Das Wohnliche und Gemütliche gehört aber mir“, sagte Paul, „das habe ich alles erst zurechtgemacht. Ihres ist in Trümmern. Total.“
Bröseke sagte eine Weile nichts. Er beugte sich dann zum Ofen, nahm etwas Holz und lächelte: „Gestatten Sie, daß ich etwas auflege. Es ist Ihr Holz. Ich weiß es jetzt.“ Und nachdem er die Ofentür geschlossen hatte, setzte er hinzu: „Sie gefallen mir. Nicht gerade als Mitbewohner. Da gefällt mir überhaupt kein Mensch. Aber sonst.“ Er kramte in seinem Rucksack, der neben dem Stuhl stand, holte ein Päckchen heraus und sagte: „Da ... Kaffee. Kochen Sie uns eine ordentliche Portion. Es ist ja Ihr Ofen. Oder ist es meiner? Na ... dann werde ich kochen. Versteht auch keiner außer mir.“
Er stellte das Wasser auf und verschwand draußen im Dunkeln. Paul hörte ihn in den Trümmern kramen und murren. Dazu jammerte eine elektrische Lampe, die der Alte mittels einer Ziehschnur zum Leuchten brachte. Nach einer Weile kehrte er triumphierend mit einer verschließbaren Kiste zurück. „Meinen Keller haben Sie nicht gefunden. Dies gehört also selbst nach Wolffenauschem Recht noch mir.“ Er packte aus. Eine zierliche kleine Mokkakanne, zwei Tassen dazu, kondensierte Milch, eine Büchse mit Zucker. Und jetzt zögerte er. „Eine Frage noch, ehe ich mich mit Ihrer Gegenwart versöhne ... Gehörten Sie dazu?“ Und er wies mit dem Daumen nach außen, als ob der Wald von den Herren von gestern wimmelte.
„Nein“, sagte Paul, „ich gehörte nicht dazu. Ich mochte sie nicht.“
„Das sagen jetzt alle“, lachte der Alte ingrimmig. „Dabei gab es in ganz Krössien nur drei, die wirklich nicht mitmachten: der Apotheker, der Schlachter Krehn und ich. Und natürlich noch der alte Abraham, der Viehhändler, den ich gewaltsam über die Grenze nach Dänemark geschafft habe. Aber ich kann es beweisen. Hier ...“, er riß seinen Hut vom Haken und zeigte auf die Krempe an der Stirnseite, die ziemlich abgegriffen war. „Ich habe immer wie ein anständiger Mensch gegrüßt und nicht mit dem steifen Arm.“
„So