Es wächst schon Gras darüber. Walther von Hollander. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Walther von Hollander
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9788711474570
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als der Schmerz. Leider, als ich aufwachte, war kein Ast da, aber die Zehen schmerzten. Rheumatismus wegen der kaputten Schuhe.“

      Der alte Huhn jammerte weiter. Er hatte ein Loch in seinem Ellbogen entdeckt und zählte die Anzüge auf, die er in seinem ehemaligen Sanatorium zurückgelassen hatte, derbe braune aus Homespun, legere blaue und graue Flanellanzüge, zwei nagelneue Fracks, auf schwere Seide gearbeitet beim ersten Schneider von Stettin, der schon im tiefsten Frieden fünfhundert Mark für den Anzug nahm.

      „Was wollten Sie alter Mann denn mit neuen Fracks?“ fragte Gerberstedt hämisch. „Mit siebzig Jahren soll man die Eitelkeit lassen und die Sünde in den Schrank hängen. Besser, man täte es schon mit fünfzig. Aber da bekommt der Teufel noch allzuleicht seine natürliche Macht.“

      Wolffenau steckte seine Pfeife an. „Wie schön und bequem muß es sein“, sagte er, „wenn man wieder an den Teufel glauben kann. Alles Böse darf man ihm in seinen einen Schuh schieben. Denn wahrscheinlich trägt er doch am anderen Bein einen Huf und kann, wenn er zu sehr über das Pflaster klappert, womöglich heute für einen Kriegsinvaliden gelten.“

      Gerberstedt nahm seine Brille für einen Augenblick ab und sah den Spötter durchdringend und mitleidig an. „Die Lästerer“, sagte er merkwürdig sanftmütig, „sitzen auf den billigsten Bänken. Aber oft wendet Gott sich überraschend gerade ihnen zu und hebt sie zu sich empor. So schreibt Nevermann, der schwedische Katholik, ein sehr einsamer glühender Denker inmitten der kalten Protestanten der nördlichen Bezirke. Sie brauchen nicht an den Teufel zu glauben und können sich besonders klug und aufgeklärt dünken, wenn Sie die Fluten des Bösen, in denen wir zu ertrinken drohn, als Menschenwerk ansehn. Mehr kann ich Ihnen jetzt nicht sagen. Sie würden es doch nicht verstehn.“

      „Unglaube macht dumm, sagt sicher auch ein Kirchenfürst, vielleicht diesmal ein südlicher“, erwiderte Paul ärgerlich und erhob sich, um an seine Arbeit zu gehn. Er hatte endlich bei Klösters eine richtige Maurerkelle bekommen, und es machte großen Spaß, den Mörtel auf den Stein zu klatschen, ihn kräftig auf die wachsende Mauer zu drücken und das Herausquellende sorgsam abzustreichen. Die Kindlichkeit, die in allem Handwerklichen steckt und die uns kindlich zufrieden und kindisch versunken macht, war ihm noch nie so bewußt geworden wie in diesem Augenblick.

      Gerberstedt hatte sich wieder hinter seine Brille versteckt. Am liebsten hätte er Paul versichert, daß seiner festen Überzeugung nach der Unglaube wirklich das Vorrecht der Dummen sei. Aber einmal hatte ihm sein Beichtvater als vordringlichste Aufgabe die Bekämpfung seines sündhaften Hochmutes gesetzt, und zum andern hatte er als eine der fruchtbarsten Übungen für Gläubige in dieser ungläubigen Zeit die „hierarchische Zurückhaltung“ empfohlen, dergestalt, daß man, im Glauben selber fortschreitend, nur das mitteilen dürfe, was die Ungläubigen, in ihrer geringen Erkenntnisfähigkeit und auf niederen Stufen der Entwicklung lebend, auch begreifen könnten. Zwar war ihm der verstockte und rationale Wolffenau tausendmal lieber als der ewig jammernde Huhn, der in seiner materiellen Verzweiflung bald bereit sein würde, die Tröstungen der Kirche entgegenzunehmen, aber er wandte sich jetzt doch an den Sanitätsrat, indem er streng dozierte: „Sinnloses, lieber Huhn, gibt es nicht auf dieser Welt, wohl aber manches, was sich unserer Erkenntnis lange oder auch für immer entzieht. Warum wir aber arm geworden sind, ein Volk, das vor dreißig Jahren noch zu den reichsten der Erde gehörte, zu den taubsten allerdings und zu den redseligsten gleichzeitig auch, ... warum wir arm geworden sind, das scheint so klar, daß man sich fast scheut, es auszusprechen.“

      „Genieren Sie sich nicht, Gerberstedt“, sagte Paul vergnügt. „Sie haben ja wenigstens einen Dummen vor sich, und wenn ich auch das nicht kapiere, so macht es nichts. Meine Mauer wird trotzdem größer.“

      Der Schriftsteller lachte so herzlich, daß Paul sich wieder mit seinem Hochmut aussöhnte. Dann begann er: „Sie kennen ja mein Haus schon. Den breiten Garten vor dem großen Fenster, Felder von Sonnenblumen in allen Größen jetzt bis zum See hinunter und dahinter das Wasser, in dem sich der ewig wechselnde Himmel spiegelt. Das war mein Blick. Und hinter mir, alle Wände bedeckend auf schönen, breiten Regalen, meine Bibliothek, siebentausend Bände, in dreißig Jahren zusammengetragen, erhungert erst, dann erschrieben, schließlich bei langsam wachsendem Namen aus aller Welt mir ins Haus geschickt. Welch eine summa mundi, eine Übersicht über alle Gedanken aller Zeiten und Völker, in die ich mich Abend für Abend bis in die Nächte hinein vertiefen durfte, genug zu tun, zu denken, zu lesen für ein hundertjähriges Leben.“

      „Und daß dies alles nun futsch ist, finden Sie in christlicher Demut prächtig“, rief Paul ärgerlich und klatschte viel zuviel Mörtel auf seinen Stein.

      Gerberstedt schüttelte langsam und geduldig den Kopf. „Warten Sie doch, Sie ... Sie Berliner. Haben Sie es immer noch nicht bemerkt, daß kein Berliner zuhören kann? Die verderblichste Eigenschaft dieser begabten Stadt.“

      „Lieber Herr“, sagte Paul, „erstens bin ich Rheinländer, wenn Sie mich schon einreihen wollen, und zweitens: wir reden alle lieber, als daß wir zuhören. Hierin machen auch die Herren aus Masuren keine Ausnahme. Und jetzt nach zwölf Jahren Zuhören kann man es den Leuten nicht einmal übelnehmen.“

      „Schön“, fuhr Gerberstedt fort, „aber was ich erzählen wollte, scheint mir wichtig, vor allem für unseren Sanitätsrat, dem es jetzt, jetzt in diesem Augenblick auferlegt ist, zu verstehn oder ...“ Er machte eine ablehnende Bewegung, die wohl bedeuten sollte, daß er bei mangelndem Verständnis seine leitende Hand von dem Alten würde abziehen müssen.

      „Also ... da bin ich gespannt. Was einem auferlegt ist, muß man ja tragen, einerlei ob man will oder nicht“, murrte Huhn.

      „Ich schlief auch in meinem Arbeitsraum“, erzählte Gerberstedt weiter, „man soll sich, wenn irgend möglich, nicht aus der Luft seiner Gedanken entfernen. Und darum hatte ich in einem Wandschrank alles, was ich täglich benutzte und was ich an Kleidern und Wäsche besaß. Viel war es nicht. Aber sechs, sieben Stück mögen es schließlich doch gewesen sein, untadelige Anzüge alles, weil ich zu Hause immer mein Arbeitszeug trug, eine lederne Hose und einen Lumberjack.“

      „Damit auch da die Gedanken nicht entschlüpfen konnten, die sich etwa eingenistet hatten“, unterbrach Paul tückisch. „Bedaure nur die arme Frau, die täglich dasselbe bei jeder Suppe sehn mußte.“

      Gerberstedt seufzte ungeduldig und sprach schnell weiter. „Ja, ich brauchte das alles gar nicht. Oder hätte es nicht gebraucht. Aber manchmal des Nachts kam es doch über mich, daß ich die andern Möglichkeiten meiner Existenz mir betrachten mußte, die Stadtanzüge aller Farben und Moden, und besonders hatte es mir ein schwarzer Anzug angetan, mit zierlichen weißen Streifen, ein wirklich schönes Stück. Dazu lagen immer parat ein Paar schwere schwarze Seidenstrümpfe und ein Paar ganz leichte und sehr bequeme Lackschuhe. Was glauben Sie? Manche Nacht ließ ich die Seidenstrümpfe durch meine Hände gleiten. Es ist nämlich nicht so, daß ich das Schöne und Angenehme des Lebens, das Leichte und Glänzende nicht spüre und ihm seinen Platz im Leben verweigere. Aber es muß freiwillig genommen und freiwillig abgelegt werden können. Nun ... da war es nichts mehr mit der Freiwilligkeit. Magisch zog mich der Anzug an. Zauberisch, verzaubernd blinkten die Lackschuhe, die ich nachts manchmal, wenn die Bäume rings um das Haus stöhnten in ihrer Einsamkeit und der See sein seltsames Gurgeln anhob, mit braunen Wollappen rieb, bis sie wie Spiegel glänzten, Untergrundspiegel, in denen man nur Glanz sieht und keine Gestalt und keine Form, sondern nur dunkles Feuer. Es war eben die höllische Versuchung.“

      Er blickte fragend zu Paul auf, um an dessen Gesicht zu ermessen, ob er weiterreden dürfe. Aber der schien ganz in seine Maurerei vertieft, kniete vor der Richtschnur und warf nur einen flüchtigen Blick auf den alten Huhn, der, den Greisenkopf zwischen die Schultern gezogen, jenes feierliche Zuhörgesicht machte, das er sich für seine Sanatoriumsdamen eingeübt hatte.

      „In irgendeiner Nacht“, fuhr Gerberstedt leise fort, „war es dann aus mit meinem Widerstand, und am nächsten Morgen packte ich ein paar meiner seidenen Hemden — auch die hatte ich mir machen lassen, feine Maßhemden, das Stück für 45 Mark —, die schweren Seidenstrümpfe und die Lackschuhe, zog den schwarzen Anzug an und einen langen Wintermantel, leicht, weich und warm und gegen die Mode bis an die