„Von Paul haben wir seit Februar nichts gehört“, sagte Christa ergeben.
Aber der Alte gab sich nicht geschlagen. „Dann wird’s Zeit, daß der Bengel sich meldet. Der Krieg ist aus. Wo treibt er sich noch herum?“ Und um weiteren Antworten aus dem Wege zu gehen, stampfte er eilig ins Haus.
Christa sah ihm mit leeren Augen nach. Sie seufzte. Zu Mittag würde sich dieses Gespräch wiederholen. Sie liebte es nicht, sich zu streiten. Am liebsten gab sie dem recht, der gerade da war. Nie hatte sie sich mit ihrem Mann gestritten. Selbst damals nicht, als er für die Schauspielerin Fröhwerth eine Villa außerhalb von Elberfeld gebaut hatte. Was hätten Vorwürfe und Auseinandersetzungen genützt? Die Männer waren nun mal so, wie sie waren. Die Welt war so, wie sie war. Es blieb ihr immer noch genug und übergenug, um ihre Luxusbedürfnisse zu befriedigen, um ihre kostbare Medaillonsammlung zu vergrößern, um sich Perlen zu kaufen, von denen sie einen ganzen Beutel voll auserlesener Stücke besaß, um zu reisen, um junge Maler zu unterstützen, die unverständliche Bilder malten, von denen sie einige Dutzend auf dem Speicher des Elberfelder Hauses gestapelt hatte und die in irgendeinem Salzbergwerk vor den Bomben sichergestellt waren und dort sicherlich und Gott sei Dank verkamen. Jetzt allerdings, nachdem die Werke ihres Mannes zum größten Teil zerstört waren oder in der russischen Zone abmontiert wurden, seit hier Gerüchte umgingen, es würde zu einer Landreform kommen und man würde das Gut der Mossignys enteignen, jetzt war sie manchmal ein wenig unruhig. Wenn weder die großen Güter noch die großen Werke übrigblieben ... dann, ja dann blieben eigentlich nur die Medaillons und die Perlen, und wie lange mochten die reichen?
Paul, ihr Sohn, hatte ihr schon vor zehn Jahren gesagt, daß eines Tages alles weg sein würde und daß es nicht weiter schade darum sei. Aber er hatte damals kommunistische Freunde oder sozialistische. (Den Unterschied zwischen den beiden würde sie nie begreifen, er war ihr auch gleichgültig. Beide waren jedenfalls Feinde, die man bekämpfen mußte, mit denen man sich nicht verbrüdern durfte.) Paul war also nicht objektiv, er hatte völlig verquere Ideen, er war ihr unsäglich fremd. Wenn sie ehrlich gewesen wäre, hätte sie zugeben müssen, daß es ihr ziemlich gleichgültig war, ob er noch lebte. Denn während er lebte, hatte sie ihn fast nie gesehen, zweimal im Jahr ein, zwei Stunden. Das war alles. Was hatte sie mit diesem fremden Menschen zu tun, der sich über alles lustig machte, was sie tat, über die Maler, über die Medaillons und selbst über die Perlen, die doch unstreitig ihren Wert zu jeder Zeit behalten hatten? Wenn sie also jetzt seufzte bei dem Gedanken, wo Paul sei, so war es eigentlich ein lügnerischer Seufzer. Nichts würde sich in ihrem Leben ändern, wenn Paul auftauchte.
Sie seufzte noch einmal. Dann nahm sie aus ihrer Handtasche ein Paket Karten und begann mit fixen, gewandten Fingern eine Patience zu legen. Da es ganz windstill war, brauchte sie nicht zu fürchten, daß die Karten wegfliegen würden.
Das kleine Jagdhaus lag abseits vom Dorf auf einem Hügel. Man konnte durch das Unterholz die Elbe schimmern sehen. Es fuhren aber nur wenige Kähne darauf. Denn die Brücken waren noch zerstört und hingen im Wasser. Das Haus selbst war durch einen der unsinnigen Kriegszufälle zerstört worden. Zwei Soldatengräber deckten die beiden letzten Verteidiger, Hellmuth Grabert und Kurt Seßner, gefallen am 3. Mai 1945. Dieselbe Granate, die das Haus auseinandergerissen hatte, mochte die beiden getötet haben. Ein Zimmer war übriggeblieben, mehr eine Kammer. Darin standen jetzt ein alter Ledersessel als Prunkstück, ein kleiner Diwan, grünüberzogen mit gräßlichen Schlangenmustern, ein dreibeiniger Tisch, dessen dritter Fuß durch Ziegelsteine ersetzt wurde. Ein paar graue Gardinen hingen vor dem Fenster, das man durch ein Zugrollo von Wachstuch verdunkeln konnte. Auf einer Kiste war eine zerbrochene Waschschüssel aufgestellt, eine zerbeulte Emaillekanne als Waschkrug, und in einer Ecke war ein graubrauner Kachelofen, auf dessen eisernem Einsatz man kochen konnte. An den Wänden hingen einige angekohlte Geweihe, gut zu brauchen als Handtuchhalter und Kleiderhaken. Trat man aus dem Zimmer, so stand man gleich im Freien, zwischen halbmannshohen Mauern, verkohlten Balken, angebranntem Ried, das noch vom Dach übriggeblieben war, und natürlich auch zwischen größeren und kleineren Geweihen, unter denen Metalltäfelchen angebracht waren, die den Abschußort, den Abschußtag und den glücklichen Jäger aufzeichneten.
Jetzt lag ein trüber Himmel über dem Jagdhaus. Von den Bäumen tropfte es ruhig und gleichmäßig wie schon seit vierzehn Tagen, und zwischen den Trümmern hatten sich Pfützen gebildet.
Paul Wolffenau kam vom Dorf, wo er seine kleinen Einkäufe gemacht hatte. Das Beste war eine zwei Meter lange Angelrute und zwanzig Meter erstklassige Angelschnur, die er in der Hand trug. Er hatte sie beim Kaufmann Klösters eingetauscht gegen ein hübsches, sehr buntes Aquarell, darstellend den Klöstersschen Kolonialwarenladen, der rechts und links von Sonnenblumen eingerahmt war. Eine etwas mühsame Arbeit, da Herr Klösters alles sehr genau auf dem Bilde zu haben wünschte, einschließlich der Firmeninschrift: Theodor Lüttjohanns Nachfolger, Inhaber Hermann Klösters. Die Reißfeder war kaum fein genug, um das alles aufzuzeichnen.
Übrigens hatte er noch zwei Pfund Grieß darauf bekommen, zwei Päckchen Tabak und eine große Tüte Tee, der in einem Winkel des Ladens den Krieg überdauert hatte und nicht besonders frisch roch. Aber es war Tee. Paul trug diese Sachen alle in seinem Koffer. Wie oft hatte er schon geflucht, daß er in einem Anfall von unangebrachtem Mitleid seinen Rucksack verschenkt hatte. Wahrscheinlich trug jetzt der stämmige Gatte der Dame den Rucksack, und er schleppte sich mit dem Koffer, den er allerdings jetzt, mit einer Wäscheleine verschnürt, auf den Rükken gebunden hatte.
„Guten Abend“, sagte Paul, als er das Zimmer betrat. „Da wären wir also. Und es hat sich gelohnt. Bitte schön ... eine Flasche Milch wie immer, Grieß, ein widerliches Gericht, aber ausreichend für drei Tage. Ein halbes Pfund Margarine, ein Klecks Butter — weniger als sonst, aber immerhin. Ein Sechspfundbrot, ein halbes Pfund Zucker, und zwar bester weißer, wie Herr Klösters betont hat, Kartoffeln ... und das meiste — ja, hier ist noch Tee — gegen ganz gewöhnliche, ins Käufliche herabgedrückte Kunst eingetauscht.“
Er kam, während er die Sachen wegpackte, an dem kleinen, grünlichen Spiegel vorbei, blieb stehn und brach das unsinnige Selbstgespräch ab. Er sah sich prüfend an. Eigentlich wäre es gut, mal wieder ein Selbstporträt zu machen. Jetzt hatte er doch Zeit, zu malen. Kein Bauherr kommandierte, keine Behörde verlangte die Entwürfe termingemäß. Immer wieder hatte er seufzend zu Gertie gesagt: „Laßt mich doch mal aus der Geldmühle heraus, ich will malen. Stein und Eisen und Glas ... das ist nicht biegsam, das leuchtet nicht.“ Also jetzt ein Selbstporträt. Ölfarben hatte er noch aus Dahlem mitgebracht. Eine Holzplatte ließ sich präparieren. Es gab also keine Entschuldigung. Bitte, hier ... statt in der Art eines einsamen Greises Selbstgespräche banalster Art zu führen, wäre es gut, das tiefste Selbstgespräch zu führen, das es gibt: das Selbstporträt. Ein schonungsloses, ein selbstenthüllendes, sich selbst enthüllendes Porträt. Das malen, was hinter dem selbstsicheren, frischen, braunen Gesicht steckte. Den Kummer etwa, der sich in den kantigen Schläfen barg. Die Grübeleien des Nachts, die sich in den winzigen Stirntälern versteckten. Die völlige Leere, die in den stahlblauen Augen langsam Platz nahm. Bitte! Wenn man mal wirklich einsam war — und wer hatte je dieses Glück in seinem Leben? — dann konnte man auch ehrlich sein.
Er kniete am Ofen und zündete ein Feuer an. Die kleinen Tannenäste, Abfälle von den Ästen, die die Granaten heruntergeschlagen hatten, prasselten hell auf. Die Ofenplatte begann zu glühn, und das Wasser in dem kleinen Emaillekochtopf hob zu singen an. Keinen Grießbrei, bitte, sondern lieber einen starken, dunkelbraunen Tee. Dazu eine Pfeife von dem graubraunen Tabak des Herrn Klösters, Marke Flaggenstolz. Er betrachtete das Paket aufmerksam. Das Reklamebild stammte aus einer Zeit, die verschüttet und vergangen war wie die Zeit, bevor Herculanum und Pompeji untergingen. Es zeigte zwei Matrosen mit nacktem Hals, kleinem Spitzbart und roten Backen, die gerade eine Flagge am Mast emporzogen. Diese Flagge war mit weißem Papier überklebt. Aber als Wolffenau das Papier wie ein Abziehbild anfeuchtete und abzog, kam wahrhaftig die alte Seekriegsflagge mit dem schwarz-weiß-roten Gösch zum Vorschein. Er mußte sehr weit zurückdenken, um sich an die alte deutsche Fahne zu erinnern.
Zuletzt flatterte sie in einem trüben Novemberwind am Hause seines Großvaters Alexander Wolffenau, des Gründers der Firma, der