Es wächst schon Gras darüber. Walther von Hollander. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Walther von Hollander
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9788711474570
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genau sein Maß. (Wie oft abgemessen!) Auf dem ponte vecchio in Florenz lag, genauso groß, eine Korallenkette in einem schäbigen Schaufenster. Gertie wollte jede Kette haben. Wie viele besaß sie? Fünfzig? Hundert? Alle verloren! „Das Korallenkettlein ist für dich gemacht“, sagte er zu Gertie. Er ging mit ihr in den Laden. Es roch nach Öl, nach Fisch und in Käse gebackenen Tomaten. Er nahm dem geschwätzigen Händler die Kette aus der Hand und legte sie Gertie um den Hals. „Du siehst ... ich kenne dich ganz genau“, sagte er stolz. Und Gertie lächelte ein wenig unsicher. Halb stolz, halb ertappt. „Wieso kennst du mich?“ Sie hatte es gern, geheimnisvoll zu sein, und fast noch lieber, wenn man ihr hinter ihre kleinen Geheimnisse kam.

      „Also lüge in Zukunft vorsichtiger“, lachte Paul damals in Florenz. Er hatte es ganz leichthin gesagt. Aber als sie errötete, wurde er einen Augenblick mißtrauisch. Da war dieser windige Brasilianer mit dem Oliventeint. Conte Silverspoon nannten sie ihn oder auch Graf Silberlöffel, weil er immer silbergrau gekleidet war von oben bis unten, Anzug, Krawatte, Hemd, Schuhe. Wie hieß er? Vergessen. Aber vielleicht hatte Gertie doch mehr Spaziergänge mit ihm gemacht, als sie eingestand, vielleicht ... Ach, wie einerlei! Die Korallenkette war längst verbrannt, und diese Kette, die gerettet war ... Er schob sie schnell zusammen und steckte sie in die Tasche. Sein Gesicht zeigte, als er jetzt seine Pfeife von neuem in Brand steckte, einen kühlen, gleichgültigen Ausdruck. Er war auch kühl und gleichgültig. Er hatte es sich ja vorgenommen. Er haßte die Exaltierten, die immer Aufgeregten, die in ihren Gefühlen Wühlenden, die in der Liebe Maßlosen, die dann auch maßlos haßten. „Das ist ja alles nur halb wahr“, pflegte er früher zu sagen. „Die Leute finden es nur sehr großartig, großartige Gefühle zu haben. Was sie in Wirklichkeit empfinden ... du lieber Himmel ... gar nichts ... armselig ... wenig ...“ Und was empfand er nun wirklich nach den schauerlichen Erlebnissen in Berlin? Was hatte er empfunden? Ach — wozu darüber nachdenken! Erstens steht es nicht ganz fest, ob man sich an frühere Empfindungen überhaupt richtig erinnern kann. Denn wenn man es in Worte einfängt, ist es schon einen verfälschenden Umweg gegangen. Und zweitens: es war ja ganz einerlei, was er vor ein paar Tagen, aufgeregt durch die Endgültigkeit, die Bildhaftigkeit des Entsetzlichen empfunden hatte. Es kam vielmehr darauf an, was er jetzt, in dieser Sekunde, noch empfand. Dann konnte man eher ermessen, was daraus werden würde, was aus ihm also werden würde. Ob er es überwinden konnte. Was hieß denn das? Er saß doch hier, ganz behaglich sogar, und rauchte eine Pfeife, die ihm wundervoll schmeckte. Hatte er also nicht schon überwunden? War nicht alles ganz schön grau und leer, wie eine Wand, an die man wieder die bunten Bilder neuer Erlebnisse hängen konnte, die man in der trostlos grauen Gegenwart mit Erinnerungen schmücken durfte? Erinnerungen? Nein ... lieber nicht. Dann Sehnsüchte? Wozu dieser Backfischausdruck! Wünsche? Was wünschte er? Im Augenblick fiel ihm nichts ein. Doch ... ein wenig schlafen. Der Zug kam noch lange nicht. Schlafen. Er neigte den Kopf und schlief sofort ein.

      Im Traume kam natürlich, was er im Wachen noch abgewehrt hatte. Der kleine Weg im Dahlemer Garten dehnte sich nur ins Unendliche und endete im Trüben, in dem Gewölbegang des Bahnhofs. Aber vorn die Rosenpergola war da, genau wie er sie vorgefunden hatte, die eine Hälfte vom Brande angesengt und jetzt erst mit wilden Trieben wieder emporwuchernd, die andere aber von einer wahren Kaskade von kleinen rosa Rosen überschäumt. Dahinter sah man nur undeutlich die Ruinen des völlig zusammengestürzten Hauses. Vor vierzehn Tagen, als er in Berlin angekommen war, nach den Mühen des Rückmarsches, nach den Wochen des Dösens im Kral, dem Gefangenenlager bei Stuttgart, in dem er sich überhaupt nicht bemühte freizukommen, weil er ja wußte, daß Gertie tot war, das Dahlemer Haus, sein bestes Werk, die witzigste Architektur, die ihm je eingefallen war, vernichtet ... damals ... vor vierzehn Tagen also, als er „heimgekommen“ war, um sich endlich das anzuschauen, was er sich immer wieder vorgestellt und doch nie begriffen hatte, damals war er langsam schlendernd auf das Haus zugegangen. Aber jetzt im Traum wagte er sich nicht weiter. Denn er hörte Gerties Schritte, die leisen hochhackigen Schritte im Kies, und nun kam sie auf ihn zu und stand unter der Pergola still, eine Hand an den ausgeglühten, halb zerschmolzenen Stäben der Pergola. Sie war seltsam gekleidet. Zur Hälfte nämlich in ihren rosa Morgenrock aus durchsichtigem Chiffon. Aber die andere Hälfte war versengt und hing in braunen Lappen über die Haut. Die Haut wiederum war unverletzt, schimmerte weiß mit einem abendlichen Widerschein von rosa. Sie stand lächelnd, ein wenig schuldbewußt, wie sie immer gewesen war, und sagte zwitschernd: „Alles futsch, Paul. Aber ich kann nichts dafür. Es ist eben so.“ Und als er nichts antwortete, setzte sie seufzend hinzu: „Du wirst natürlich böse sein. Kann ich nicht ändern. Außerdem bringst du es ja doch wieder in Ordnung. Nicht wahr?“ Paul lachte. „Ist schon in Ordnung. Da.“ Und er bückte sich zu seinem Rucksack und hob ihn triumphierend auf. „Da ist alles drin. Wäsche, Kleider, dein Gabardine-Kostüm, dein kirschrotes Complet. Ich habe doch deinen Koffer ausgegraben.“ „Danke“, sagte Gertie, ohne das Gesicht zu verziehn. Damit ärgerte sie ihn immer, daß sie nie zeigte, wenn sie sich wirklich freute. Er sollte es raten, und wenn er es nicht riet, liebte er sie eben nicht. „Danke, und nun such’ noch den Schuhkoffer. Er muß da auch noch irgendwo liegen.“ Endlich konnte sich Paul in seinem Traum bewegen. Er lief auf sie zu, um sie zu packen und „wegen Frechheit“ zu verhauen. Aber sie war verschwunden, und er stand vor den Trümmern und hatte einen Spaten in der Hand. Die Spitzhacke lag daneben, und er grub vorsichtig. Der Schutt war bereits im Zerfallen, und es wuchs schon Gras darüber. In einer Ecke blühte sogar Fingerhut, digitalis. Gut gegen Herzschmerzen. Vorsichtig hob er die grüne Schicht ab, grub den Mörtel heraus, nahm die Spitzhacke und — im Traum ging das schneller, als es vor drei Wochen im Dahlemer Garten gegangen war— legte bald den Eingang zum Keller frei. Noch zwei Stunden Arbeit und er würde hineinkriechen können. Er sah schon die Rippen des Gewölbes, das nun Gerties Grabgewölbe geworden war. Er hieb wütend auf die Steine, daß die Funken sprühten — der Rücken schmerzte ihn. Und er wachte auf.

      Er sah hinauf und stellte fest, daß es noch ganz dunkel war. Er hatte sich den Rücken an der Kante der Steinstufe schmerzhaft gerieben. Er nahm seinen Rucksack, legte ihn als Kissen hinter den schmerzenden Rücken. Jetzt fiel ihm der Traum wieder ein. Ja ... im Wachen konnte er seine Gedanken beherrschen, konnte von Dahlem wegdenken, konnte stundenlang alles Vergangene vergessen. Als ob es Gertie nie gegeben hätte, als ob sie nicht verbrannt und erstickt wäre, vier Wochen vor dem Waffenstillstand. Am Nachmittag noch hatte sie einen ganz heiteren, komischen Brief geschrieben, daß Bomben sie bestimmt nicht totkriegen würden, nachdem sie nicht einmal an Pauls Gefühllosigkeit, an seiner maßlosen Kälte und Herrschsucht, an seinem verdammten und überflüssigen Hineinrennen gestorben sei. „Paul der Erste hätte Dich zähneknirschend reklamiert, wenn ich ihn gebeten hätte, und ich habe ihn sogar heimlich gebeten, und man wird Dich telegraphisch herausholen, und Du wirst Deine verdammte Pflicht und Schludrigkeit tun und Dein Weib schützen einschließlich Heim und Herd.“

      Das war also ihr letzter Brief, und am Abend dieses Tages war sie zusammen mit der dicken Köchin Minna und deren Soldaten verschüttet und verbrannt, und niemand hatte nachgegraben, niemand sich bis zu diesem August 1945 darum gekümmert, wo Gertie geblieben war. Er selbst aber? Nun, er hatte gegraben und gehackt. Regierungsrat Dittmoser von nebenan hatte ihm geholfen. Er hatte Zeit. Es gab keine Regierung, und er stand sicher auf irgendeiner schwarzen Liste, war auch mal verhaftet worden und erzählte, während sie gruben, von seinen Leiden und von seinen dunklen Zukunftsaussichten, bis er ihn fortschickte. Denn bald mußte er Gertie finden, und da wollte er allein sein. Weg, weg damit. Er hatte sie nicht gefunden. Er war nur auf einen Soldatenstiefel gestoßen, der dem Schatz der dicken Minna gehört haben mußte, auf das Häubchen der Köchin. Nein ... dann hatte er es aufgegeben und hatte die Koffer geöffnet, die im Vorkeller gestanden hatten. Der graue Flanellanzug stammte daher, den er jetzt trug, die drei Hemden, die er besaß, die beiden hübschen Paar Schuhe ... kurzum, die Ausrüstung, die Gertie für ihn zusammengestellt hatte, wenn sie zusammen als Bettler auf die Wanderschaft würden gehn müssen. Und im anderen Koffer waren Gerties Sachen gewesen. Warum hatte er die eingepackt — die Wäsche, die Sommerkleider, das Gabardine-Kostüm und das kirschrote Complet? Die füllten nun den prallen Rucksack, auf dem er lag, und der leise Duft von Chypre war nicht auszulöschen.

      Zwei Stunden mochten vergangen sein, vielleicht waren es auch drei. Vielleicht auch nur zwanzig Minuten. Das eine nämlich hatte Wolffenau wie so viele in dieser Zeit gelernt, die Zeit für nichts zu erachten, sie