Nach diesem Grundsatz hatte Paul I. gelebt und hatte die rote Fahne überstanden, dann die schwarz-rot-goldene, und er hatte auch gut, ja vorzüglich unter der Fahne mit dem Hakenkreuz gelebt. Es kam nicht auf die Flagge an, sondern ... Paul schüttete Tee in das sprudelnde Wasser. Ein Sieb besaß er nicht. So schwammen die Teefische in der henkellosen Tasse, auf die in Goldbuchstaben „Dem lieben Fritz“ gemalt war. Übrigens stank der Tabak, Marke Flaggenstolz, ganz abscheulich.
Es kommt nicht auf die Flagge an, dachte Paul wieder. Aber wenn es, wie jetzt, überhaupt keine Fahne gab, die man militärisch begrüßen, vor der man den Zylinder lüften, die man mit ausgestrecktem Arm beschwören konnte? Sicherlich, sobald es eine neue Fahne gab, würde Paul der Erste sie wieder an den gewünschten Tagen auf seinem Balkon hissen. Denn es kam ja nicht auf die Fahne an, sondern auf die realen Tatsachen, die man mit Kraft, mit Geduld, mit List zurechtbiegen konnte, weil man eben kräftiger, geduldiger und listiger war als die anderen.
Der Tee schmeckte wundervoll. Es war jetzt behaglich warm. Ein ziemlich kräftiger Wind blies von der Elbe her. Die lockeren Balken klapperten vor der Tür. Der Regen klatschte in Stößen gegen die Bäume und tropfte auf das Jagdhaus. Wolffenau warf noch ein paar Hände voll Kienäpfel auf das Feuer und stellte Kartoffeln auf. Es war vernünftiger, irgend was zu essen. Zum Holzsuchen war es außerdem zu naß. Er beschloß also, dazubleiben, es sich behaglich zu machen. Behaglich? Das klang ganz schön, und er hätte es ja auch wirklich behaglich haben können, wenn er nicht zufällig ein gutes Gedächtnis gehabt hätte, eine starke Vorstellungskraft. Wenn nicht in dieser Einsamkeit die Erinnerungen, die er längst abgestorben gewähnt hatte, zu wuchern begonnen hätten, unkrauthafte, die seit Jahrzehnten ihre Keimkraft behalten hatten und nun, da sie nicht von der Flugsandschicht der täglichen Erlebnisse überschüttet und niedergehalten wurden, mit krausen Blättern und seltsamen Blüten ans Licht kamen, einander bedrängend und wegdrängend und je nach ihrer Kraft wechselnd ins Bewußtsein emporwachsend.
Wie aber erinnert man sich, wenn man ohne eine richtige Tätigkeit dasitzt? Die Motoren laufen ja noch. Man ist und bleibt ein heutiger, hastiger, tätiger Mensch. Man hat zum erstenmal kein richtiges Ziel und ist doch zielstrebig auf tausenderlei Aufgaben hin erzogen worden. Man ist gewohnt, an einer Zukunft zu bauen, wenn sie sich auch immer wieder, zu Gegenwart geronnen, als etwas recht Unvollkommenes erweist und uns darum befiehlt, wiederum eine andere Zukunft zu setzen, die man nun erstreben muß, obwohl man im Laufe der Jahre erfahren hat, daß aus jeder noch so leuchtenden Zukunft eine recht trübe und unvollkommene Gegenwart wird. Wie erinnert man sich also, wenn man tatenlos und zukunftslos, in einer Atempause zwischen zwei Atemzügen der Zeit lebt? Man erinnert sich in seltsam abgerissenen Fetzen, und es ist schwer, die Fäden zwischen den Fetzen neu zu knüpfen und zum Ganzen zu sagen: Das war dein Leben, und was nun?
Während er, die Tasse „für den lieben Fritz“ zwischen beiden Händen, vor sich hinstarrte, auf den Regen lauschte, der ununterbrochen niederging, auf das warnende Geschrei der Eichelhäher, die vor irgendeinem Menschen ins Innere des Waldes flüchteten, tauchte wieder das Gesicht Gerties auf, und diesmal nur als ein ganz flüchtiger, vorübergehender Eindruck, das Gesicht nämlich von Tränen überströmt, nachdem er sie an einem schönen Sommertag auf dem Tennisplatz des Rot-Weiß-Clubs zum erstenmal ganz klar 7:5, 6:2 geschlagen hatte. Warum weinte sie? Aus verletztem Ehrgeiz? So hatte er damals gedacht, als er sie lachend und tröstend über das Netz weg umarmte und ihr spöttisch versprach, sich in Zukunft immer, wie es sich gehöre, besiegen zu lassen. „Du spielst eben besser“, hatte sie geschluchzt und war wütend davongelaufen. Jetzt wußte er, warum sie weinte. In ihrem ganzen Zusammenleben nämlich konnte sie seine Überlegenheit mit Spott überspielen und mit Finten wegwischen. Aber 7:5, 6:2 ... das ließ sich nicht wegfintieren, das war ein glattes und klares Ergebnis. Und in diesem Augenblick wußte sie, daß er ihr überlegen war. Ein Kampf von sechs Jahren hatte sich entschieden. Er spürte jetzt — früher hatte er nie darüber nachgedacht —, daß dieser Kampf in jeder Ehe entschieden werden muß, mochte es auch das Ideal einer Ehe geben, in der man nicht kämpft und keine Entscheidungen herbeiführen will. Und was hatte er von seinem Sieg gehabt? Er war notwendig gewesen, gewiß. Aber war er auch fruchtbar? Er konnte es nicht entscheiden. Wenn er an die Ehe seines Vaters dachte, in der es nie einen Kampf gegeben hatte, weil Paul I. gar keine Zeit dazu hatte und von vornherein seine Frau mit eisiger Höflichkeit auf einen Hausfrauenthron stellte, auf dem sie als würdige Regentin eines Vierzehn-Zimmer-Haushaltes im wahrsten Sinne des Wortes kaltgestellt war, so mußte er seine kurze, kämpfereiche Ehe loben. Mindestens war sie immer voller Überraschungen gewesen, meist voller Heiterkeit und guter Laune, sehr verspielt freilich, aber auch sehr abwechslungsreich. Man war einander nie sicher. Das konnte manchmal recht nervenaufreibend sein. Aber wenn er an die sicheren Ehen seiner Freunde dachte, so war es schon ganz gut so. Ja, es war für ihn das einzig Richtige, und er würde in Zukunft ... Himmel, er hatte ja ganz vergessen: Das war endgültig vorbei! Gertie war längst tot, begraben unter den Trümmern des kleinen verspielten Hauses in Dahlem. Also weg damit und schnell eine neue Pfeife gestopft!
Da war doch noch etwas mit dem Flaggenstolz. Ach ja, richtig, die Sache mit den verschiedenfarbigen Fahnen, die während seines kurzen Lebens über Deutschland geflattert hatten, und daß es jetzt keine Fahne gab, die man hißte und verehrte. Er hatte seinen Vater verspottet, weil er unter jeder Fahne gut lebte. Und er selbst? Hatte er Grund zum Spott? Nun, wenn er es ehrlich überlegte: für ihn konnte keine der Fahnen eine große Bedeutung haben. Acht Jahre war er alt, als aus dem Kampf zwischen rot und schwarz-weiß-rot die schwarz-rotgoldene Fahne kam, der sich niemand recht verpflichtet fühlte, eine Fahne über einem arbeitsamen, zäh alle Schwierigkeiten eines verlorenen Krieges überwindenden Volke. Sie war ihm so gleichgültig wie den meisten anderen Deutschen. Sie wurde auch selten gezeigt. Sie flatterte über einem überraschenden Aufstieg und einem ebenso überraschenden, in seinen Gründen kaum zu enträtselnden, aber anscheinend unaufhaltsamen Abstieg. Bis dann das Hakenkreuz kam. Das war ihm recht unbehaglich. Die Männer, die es trugen, zeigten eine Überheblichkeit, die ihn abstieß. Sie machten alles neu, auch das, von dem sie gar nichts verstanden. Sie wußten alles besser, auch das, von dem sie gar nichts wußten. Sie machten ihm allerlei Schwierigkeiten, verboten ihm zum Beispiel, flache Dächer zu bauen. Nun ... er hatte die flachen Dächer sowieso gerade über. Er fügte sich nicht etwa, wie sein großer Meister, der belgische Architekt Cassembert, es ihm in einem heftigen und ungerechten Brief vorwarf. Er war zufälligerweise wirklich auf einem neuen Wege. Oder fügte er sich doch? Hatte der Meister nicht recht, daß sein großes Talent schon zum Alleskönnen ausgeartet war, daß er mit seinen ungewöhnlichen Fähigkeiten sich jeder Richtung anschmiegen und sie originell weiterführen konnte? War er vielleicht seinem Vater allzu ähnlich, der die Tatsachen so lange bog, bis sie zu ihm paßten? War er also mit Hilfe seiner Gaben ein Konjunkturjäger geworden, einer, der im Mißerfolg enden mußte, weil er ohne Erfolg nicht leben konnte, ohne Lob nicht und nicht ohne Arbeit und Beifall? Eine sehr schwere, eine Lebensfrage.
„Wer immer dabeisein will, verliert schließlich die Verbindung mit sich selbst“, schrieb Cassembert am Schluß seines Briefes, und er hatte ihn nach Paris eingeladen, um in aller Stille, ohne Gedanken an einen Erfolg, die Häusertypen der Zukunft zu entwickeln, die Häuser der einzelnen. Des mönchischen Gelehrten zum Beispiel, winzig,