Wolffenau gehörte zu den Geduldigen. Und als er jetzt zu sich zurückkehrte, kaum wissend ob er geschlafen hatte, waren in der Tat vier Stunden vergangen. Das Gefängnislicht auf der Treppe wurde ausgelöscht, und die erste graue Dämmerung sickerte langsam über die Stufen nach unten. Er sah sich um. Es hatten sich viele der reisenden Flüchtlinge aus den kellerartigen Gewölben auf die Stufen geflüchtet. Wahrscheinlich war unten das Gedränge unerträglich geworden. Rechts über ihm lag ein Bein in einem Soldatenstiefel. Das andere Bein des Schläfers fehlte. Die graue, schmutzige Hose war mit einer Sicherheitsnadel über dem Knie zusammengeheftet, die beiden Krücken mit den halben Rundungen für die Arme und den lederbezogenen Griffen wirkten daneben fast elegant. Jetzt sah Wolffenau, daß der Mann mit seinem Kopf im Schoße einer breithüftigen Frau lag. Die Frau hatte in ihrem rechten Arm ein etwa dreijähriges, engelhaft schlafendes Kind mit verschwitzten Löckchen. Mit der linken Hand streichelte sie langsam und feierlich das struppige Haar ihres Mannes. Ließ sie mit Streicheln nach, so wachte der Mann auf, lächelte ihr zu und schlief sofort wieder ein, wenn sie das Streicheln fortsetzte. Man sah: sie hatten sich erst seit wenigen Tagen wiedergefunden, und ihr Zusammensein machte sie glücklich im Haufen der Elenden und in ihrem eigenen Elend.
Die Frau mochte wohl fühlen, daß Wolffenau sie beobachtete. Sie blickte flüchtig auf, lächelte etwas verlegen, als müsse sie sich wegen ihres Glückes entschuldigen, und beugte sich wieder über den schlafenden Mann. Jetzt erst bemerkte Wolffenau, daß neben ihm eine junge Frau lag, die ihren Kopf gegen seinen weichen Rucksack gebettet hatte und in einen Schlaf kraftloser Erschöpfung versunken war. Sie mochte wohl zu anderen Zeiten eine Schönheit sein. Der Mund, mit Spuren von Rouge, war sehr klein, die Nase zierlich. Die Augenbrauen, ehemals ausrasiert, wuchsen ein wenig wild. Das Gesicht, rundbogig, mit etwas heraustretenden Backenknochen und grauen Schattentälern des Kummers, der Einsamkeit und der Entbehrungen unter den Augen, war eingerahmt von einem hellblauen, kunstvoll und straff geknüpften Kopftuch. Sie war in ein hellgraues Kostüm gekleidet, das nicht mehr ganz sauber war, mit einem Trenchcoat darüber, der von einem Ledergürtel zusammengehalten wurde. Ihre sehr kleinen Füße steckten in zerschlissenen Seidenschuhen. Die Hände, die sie gefaltet hielt, hatten rote Nägel, von denen der Lack zum größten Teil abgesprungen war. Am Ringfinger trug sie einen Trauring und einen Schlangenring mit einer kostbaren Perle. Wolffenau studierte sie so genau, nicht eigentlich aus Interesse, sondern weil er von Natur und Übung her und von Berufs wegen eben ein Augenmensch war, gewohnt, jede Einzelheit sofort zu registrieren und aus tausend Einzelheiten im Augenblick das Gesamtbild zu haben. Er stellte sich ihr früheres Dasein vor: Verwöhnt, von vielen Männern begehrt, kleiner Sportwagen mit blauem Leder vor dem Haus. Eine gute Tennisspielerin vielleicht, ein gepflegter Fünf-Zimmer-Haushalt irgendwo in der Vorstadt mit viel unnützem Zeug, Porzellankatzen auf hellen Vitrinen, Füllen aus Ton von der Renée Sintenis, großen Vasen auf den Teppichen, in die sie jeden Morgen die Blumen ordnete. Ein gutes, älteres Dienstmädchen, das sie in ihrer hochmütigen Art gut versorgte und in Distanz hielt. Ein behütetes, angenehmes, warmes Leben, etwas ziellos, ziemlich sinnlos, voll kleiner Spannungen, die sich zumeist um den Mann konzentrierten, zuweilen aber auch um irgendwelche hübschen, gutgekleideten Tennisspieler, trefflichen Tänzer, brillanten Autofahrer, berühmten Schauspieler, die im Hause aus- und eingingen. Und dann dieser Krieg. Erst ferne. Dann näher am Herzen, weil der Mann fortmußte. Dann mit den grollenden Flugzeugen, den pfeifenden Bomben bis ans Haus getragen. Dann das ferne Brummen der Front und die ersten Abschüsse, die man nachts schon leuchten sah. Dann Flucht, zuerst noch mit Koffern, schließlich ohne irgend etwas. Ja ... sie trug ihre ganze Habe in einer Art Jagdtasche mit sich, deren Riemen sie über die Schulter gelegt hatte.
Wolffenau unterbrach ärgerlich seine sinnlosen Betrachtungen. Warum beschäftigte er sich mit dem Schicksal dieser Frau? Nur weil sie seinen Rucksack als Kopfkissen benutzte? Er mußte ihr zudem die Kopfstütze jetzt wegziehn. Denn er wollte gehn. Er hatte genug von diesem Warten. Es wurde Zeit, sich aus dem Haufen der Elenden zu lösen. Gerade hörte er, wie ein Bahnbeamter erzählte, daß vorläufig an einen Zug nicht zu denken sei. Also weg! Den Rucksack genommen ... Statt dessen zog er sein Notizbuch und schrieb auf einen Zettel: „Sie schliefen so schön. Da konnte ich Ihnen das Kopfkissen nicht wegnehmen. Nehmen Sie den Rucksack als Geschenk eines unbekannten Verehrers, als eine kleine Ermunterung des Himmels. Die Sachen werden Ihnen sicher passen und bis auf das kirschrote Complet sogar gut stehn. Alles Gute.“
Dann nahm er seinen Koffer, stieg die Stufen hinab, kletterte über ein Gewirr von Beinen, Koffern, Kisten auf den Ausgang des Bahnhofes zu.
Draußen regnete es immer noch. Eigentlich, so dachte er, hätte ich lieber den Rucksack mitnehmen sollen und ihr Gerties Sachen in den Koffer einpacken. Denn so ein Koffer trägt sich viel unbequemer. Dann aber fiel ihm ein, was Gertie gesagt haben würde: „Mensch, Paul, sei manchmal ein Kavalier.“
So wandte er sich denn ganz befriedigt und bestieg eine Straßenbahn, die ihn an die Peripherie der Stadt bringen sollte. Was dann? Das war so ungewiß, wie es ungewiß war, wann je ein Zug diesen Bahnhof der Verdammten verlassen würde.
Das Schloß der Mossignys, 1530 gebaut und gegen die räuberischen Banden des Dreißigjährigen Krieges mit einem breiten Graben und einer Wehrmauer aus Felssteinen geschützt, liegt auf einer kleinen Anhöhe über dem Fluß, der sich schon fächerförmig in fünf Flußarme teilt, um ein paar Kilometer weiter sich ins Meer zu ergießen. Es ist ein nicht gerade schöner Bau, massig und trutzig im altdeutschen Sinn, mit einem breiten Quaderturm an der einen Seite, von dem aus man an hellen Tagen das Meer sehen kann. Von diesem Turm aus erschoß ein Graf Eckeholm — die Mossignys erbten das Schloß erst 1850, da ein Mossigny die letzte Eckeholm geheiratet hatte — im Dreißigjährigen Krieg einen schwedischen Hauptmann, der mit Plünderern eingedrungen war, und wurde vom Turm geworfen. Von der Plattform stürzte sich um 1730 eine Eckeholm, weil ihr Liebhaber in einem Duell mit ihrem Mann