Paul antwortete lange nicht. Schließlich sagte er unwillig: „Ich glaube, ich kannte sie.“
Bröseke nickte flüchtig, so als habe er es nicht mehr aufgenommen.
Es war lange ganz still im Zimmer. Man hörte den Wind draußen, obwohl er ganz leise geworden war. Schließlich beugte sich der Alte vor und sagte feierlich: „Das ist gut so. Es wird Ihnen gut gehn, und sie werden lange leben auf Erden.“
Von da ab wurde zwischen den beiden nichts mehr gesprochen. Sie tranken aber kräftig weiter. Die Mischung aus reinem Alkohol und Himbeersaft erwies sich als äußerst wohlschmekkend. Freilich war sie nicht ganz ungefährlich. Denn wenngleich es Wolffenau und auch Bröseke so erschien, als würden sie immer klarer, so klar sogar, daß Wolffenau glaubte, um das Haupt des Zahnarztes eine Art Heiligenschein zu sehn — es war aber nur, weil er durch die Kerze auf ihn blickte —, so konnten sie ihre Beine doch nicht mehr allzu gut gebrauchen. Wenn nun einer mal das Bedürfnis spürte, ins Freie zu gehn, so konnte er es nicht mehr, ohne daß der andre ihn unter allerlei Beschwörungsformeln und Ermunterungen aus seinem Sessel hochhievte. Der andre wiederum, der den einen zu stützen sich bemühte, war selbst ein schwankendes Rohr im Winde. So wurde jede Expedition ein rechtes Abenteuer, bei dem es zunächst darauf ankam, die recht schmale Tür zu treffen und über die Balken das Freie zu gewinnen. Später kürzten sie die Expeditionen etwas ab und blieben, wie kleine Bäume schwankend, in den Trümmern stehn. Schließlich hatte es ja nun schon monatelang in das ehemalige große Zimmer hineingeregnet.
Wann Bröseke aufgebrochen war, konnte Paul nicht feststellen. Als er aufwachte, schien die Sonne warm und hell ins Zimmer. Der Schnaps mußte von bester Qualität gewesen sein. Denn er hatte keine Kopfschmerzen. Von den drei Flaschen beschwert, lag ein kleiner Zettel auf dem Tisch. Darauf stand: „Der Kaffee liegt unter dem Sessel. Sie werden ihn nötig haben. Die Kammer überlasse ich Ihnen. Ein Sack Zement steht unten im Keller. Sie könnten für mich einen kleinen Anbau mauern. Oder sind Architekten zu fein dazu? Dr. Bröseke, Zahnarzt aus Krössien, ehemaliger Besitzer eines Jagdhauses.“
Paul kochte sich einen starken Kaffee. Er trank ihn hastig. Er hatte jetzt viel zu tun. Bis zum Mittag schleppte er in einem alten Korbe feinen Flußsand von der Elbe herauf. Nachmittags mischte er Sand und Zement zu einem guten Mörtel und begann die erste Mauer aufzurichten, indem er Stein um Stein aus dem Trümmern herauszog, sauber klopfte und sorgsam setzte.
In der Brombeerzeit wurde der Wald lebhafter. Schon morgens gegen fünf hörte man die ersten Leute aus der Stadt durch den Wald lärmen, und nur, wenn sie gute Brombeerstellen gefunden hatten, wurden sie stiller, um den anderen nicht zu verraten, daß es hier etwas zu ernten gab. Und in der Pilzzeit kamen ganze Horden an, um nach Pfifferlingen zu suchen, die orangegelb in den Kiefernschonungen wuchsen, nach den braunsamtenen Steinpilzen, die man bisweilen in den jungen Eichenwäldern fand, den Königen unter den Pilzen, die selten geworden waren wie die Könige heutzutage, nach den rotstengeligen Hexenpilzen, an die sich nur die Kenner wagten, nach Ziegenlippen, die wie Korallenschwämme an den Baumwurzeln wucherten, und den vielerlei Röhrlingen, die bei der sehr nassen Witterung so leicht verfaulten und in allen Zuständen der Verwesung in sich zusammensanken. Dazu kamen, von der Angst vor dem herannahenden Winter aus ihren Zimmern herausgescheucht, die Holzsammler aller Stände und jeden Alters mit den seltsamsten Karren, Puppenwagen, Traggestellen und weideten den Waldboden nach Holz ab, sammelten das kleinste Hölzchen auf, den vermorschtesten Kienapfel, und manche trugen sogar in Taschen die Kiefernnadeln weg, um vielleicht später einmal Suppe auf ihnen zu wärmen. Die meisten machten, von dem schlechten Gewissen aller Armen gescheucht, einen weiten Bogen um das Jagdhaus und den seltsamen Maurer, der in einer halb zerfetzten Windjacke, das türkische Seidentuch stets sorgfältig geknüpft, vergnügt pfeifend hinter der langsam aufwachsenden Mauer stand oder auf einem Schemel hockend die Ziegelsteine zurechtklopfte. Manche wiederum gingen direkt auf die Hütte zu und suchten Wolffenau in ein Gespräch zu verwickeln, teils aus Neugierde, teils um von ihm gute Pilz- und Holzstellen zu erfragen, oder auch einfach, um sich ein wenig im Windschatten der Jagdhütte von dem mühsamen und ungewohnten Suchen und Klauben auszuruhn.
Zwei von diesen kamen regelmäßig einmal in der Woche zusammen durch den Wald und rasteten eine Stunde bei Paul: der weißbärtige Sanitätsrat Huhn, ehemals Besitzer eines berühmten Ostseesanatoriums, ein etwas raffgieriger alter Herr, der sich einredete, eines Tages werde „das ungeheure Unrecht“ wiedergutgemacht werden, d. h. er werde wieder in sein Sanatorium eingesetzt werden und gegen gutes Honorar die klimakterische Redseligkeit ehekranker Damen wieder über sich ergehn lassen dürfen, und Louis Gerberstedt, der Dichter und Essayist aus Masuren, der bis zum Jahre vorher mit einer robusten Frau und sechs Kindern auf einem einsamen Bauernhof an einem See gehaust hatte und den Verlust seines Hauses, seiner Bibliothek, seiner gesamten Habe und — wie er erst gegen Schluß der Verlustliste zu bemerken pflegte — seiner siebenköpfigen Familie (sie waren alle auf der Flucht erfroren oder erschossen worden) mit erstaunlichem Gleichmut zu ertragen schien. Gerberstedt war der Bemerkenswertere von den beiden. Ein fast zwei Meter langer Mann, gekleidet in einen immer schäbiger werdenden, grau und violett gestreiften Anzug von schlechtester Auffälligkeit, dessen Hose er unten mit breiten Schnüren zugebunden hatte. Dazu trug er die Uniform der Waldläufer, eine schäbige, kurze, von dem nassen Holz verschmutzte Windjacke. Sein fleischiges, breites Gesicht, dessen Fett langsam unter den Entbehrungen schrumpfte, wurde von einer Geiernase beherrscht und von der riesigen schwarzen Brille, die er auch beim kleinsten Sonnenstrahl trug, verdunkelt. Nahm er die Brille einmal ab, so enthüllte er ein Paar samtbraune Augen von hoher Intelligenz und tiefer Sanftmut. Der Mund war schmal, hart und, wie man es bei etwas unsicheren Frommen häufig findet, etwas verkniffen. Paul hatte vor Jahren Gerberstedts berühmtestes Buch „Stimme Gottes aus Masuren“ mal in den Händen gehabt und achtlos beiseite gelegt. Jetzt hatte der Sanitätsrat Huhn es ihm wieder geborgt, und er versuchte, es aufmerksam zu lesen. Es war ein brünstig-inbrünstiges Buch, das in zuweilen ergreifenden Bildern von den Manifestationen Gottes in der Natur mehr sang, als aussagte und von den Sünden und Anfechtungen des Verfassers mit jener Eitelkeit sprach, von der sich Konvertiten nur selten zu befreien vermögen.
Sie saßen an diesem Septembertage an der eben fertiggestellten ersten Mauer. Der Himmel war halb bedeckt, und zuweilen kam die Sonne und brannte auf die Steine. Vor ihnen standen ein Schubkarren und ein Handwagen, hoch mit Bruchholz beladen, der Vormittagsbeute der beiden Städter. Paul hatte etwas Milch warm gemacht, und seine beiden Gäste tranken in kleinen, gierigen Schlucken.
Der alte Huhn gackerte einförmig sein Klagelied herunter, rechnete, Zahlen aus einem zerfledderten Notizbuch ablesend, seine Verluste vor, die in die Hunderttausende gingen, ungerechnet den entgangenen Verdienst seit Herbst 1944, als man seine kranken Damen aus dem Sanatorium hinausgejagt und eine Heeresschule für eine der berühmten Wunderwaffen hineingelegt hatte, die nachher nie zum Schuß kam. Zum zweitenmal waren alle Ersparnisse zerronnen, alles Erraffte und Erarbeitete ins Nichts versickert. Warum gerade ihm das, einem friedfertigen, ruhigen Menschen, der nichts anderes je gewollt habe, als der leidenden Menschheit zu dienen! Aber unmöglich könne es dabei bleiben, daß die einen noch ungestört in ihrem Besitz säßen und die anderen als Bettler durch die Wälder gejagt würden, um windgebrochenes Holz zu sammeln ...
„Ich