Der Spielbeginn nahm mir den größten Respekt vor den Bayern, denn meine Männer kämpften mit der gleichen Leidenschaft, die ich und vermutlich auch die meisten der anderen 34.000 für den Verein Fritz Walters empfanden. Es wurde verbissen gegrätscht und gelaufen, und jede gelungene Abwehraktion wurde von ohrenbetäubendem Jubel begleitet. Die in Weiß gekleideten Bayern waren spielerisch stark. Mehrmals sah ich einen von ihnen in aussichtsreicher Position vor Michael Serr auftauchen (Gerry Ehrmann fehlte verletzungsbedingt), doch die scharfen Schüsse zischten knapp am Tor vor der Osttribüne vorbei oder wurden pariert. Ich fühlte in diesen Momenten eine innere Lähmung und schickte heftige Stoßgebete in Richtung der beteiligten Personen einschließlich des Lederballes, der unter keinen Umständen seinen Weg ins Netz finden durfte. Er fand ihn nicht.
Mit der Zeit wurden die Roten Teufel mutiger und kämpften sich aus der Umklammerung heraus. Ein erster Kopfball von Harald Kohr landete auf der Latte, und die ohnehin schon gute Stimmung auf den Rängen erhielt einen weiteren Schub. Unwirklich dann der Moment kurz vor der Pause. Frank Lelle, damals noch Vertragsamateur, lief ein paar Schritte vor der Münchner Abwehr quer, sah eine Lücke und zog mit dem linken Fuß aus der Distanz von geschätzten 20 Metern ab. (Bis heute sah ich zu dem Spiel keine Fernsehbilder.) Jemand, der nicht das Problem hat, mit einer Durchschnittsmannschaft zu leiden, wird die Ewigkeit, die ein Ball in der Luft sein kann, die Zweifel, ob ihn der fliegende Torhüter erreichen wird, die Ungläubigkeit, dass ein Bayern-Keeper den Ball eines Pfälzer Polizisten nicht aufhalten kann und schließlich den Triumph, mit 1:0 gegen den übermächtigen FC Bayern München in Führung gegangen zu sein, nicht nachvollziehen können. All diese und noch andere Emotionen ließen die abstiegsgepeinigten Pfälzer Hosianna singend den Halbzeitpfiff genießen, und wieder und wieder wurde das schnelle, scharfe, schneidende „Zieht den Bayern die Lederhosen aus“ angestimmt. Nach der Halbzeitpause noch öfter, lauter, triumphierender, denn Harald Kohr erhöhte mit zwei Kopfballtreffern auf 3:0. Mein Bruder und ich kamen aus dem Applaudieren nicht mehr heraus, und hinter mir rief eine sich überschlagende Stimme: „Das ist der Betzenberg!!!“
Ich glaubte zu verstehen. Der Betzenberg war nicht bloß das, was ich gegen Frankfurt erlebt hatte: ein stimmungsvolles Fußballstadion. Der Betzenberg verhieß eine Option, das Wissen um die jederzeit mögliche Wende zum Guten. Er war ein Vulkan, der aus dem Nichts heraus explodieren konnte, eine Hölle, die ihre Teufel, wenn es ganz eng wurde, nicht im Stich ließ. In den Jahren danach sollte ich noch oft Zeuge solcher Ausbrüche werden, freilich auch Zeuge enttäuschender Spiele, doch der Glaube an die irgendwann eintretende Rettung sollte mich nicht mehr verlassen.
Dass die Bayern an jenem Tag noch ein Tor schossen, störte niemanden mehr. Nach dem Schlusspfiff stürmten die FCK-Spieler auf Michael Serr zu und genossen anschließend das Bad in der Menge. Erleichterte, ungläubige Jubelgesänge und ein rot-weißes Fahnenmeer waren das Letzte, was ich von der Westkurve mitbekam. Hinter dem Stadion warf sich ein siegestrunkener Fan, der wohl in einem der „härteren“ Blöcke gestanden hatte, meinem Bruder in die Arme und rief etwas wie: „Denen haben wir es gegeben, den Wichsern!“ Ich benutzte damals Worte wie Wichser nicht und im Grunde auch heute so gut wie nie, doch der Mann sprach aus, was ich empfand. Die Bayern waren Wichser, und wir hatten es den Wichsern gegeben. Die Wichser würden in diesem Jahr auch nicht mehr Deutscher Meister werden. Schön, dass endlich einmal Werder Bremen dran war. Werder Bremen war sympathisch – keine Wichser. Als ich den Fan, den mein Bruder von einer Praktikumstelle her kannte, zu Hause zitierte, leugnete mein Bruder in Anwesenheit meines Vaters, dass das Wort Wichser gefallen sei. Ich verstand nicht warum, denn Fußball war für mich keine Frage der Wortwahl, sondern der Emotion.
V.
Leidenschaft fürs Mittelmaß
Der 30. April 1988 hatte meine Leidenschaft auf die Stufe eines Stadiongängers gehoben. Ich wusste nun, dass meine Anwesenheit der Mannschaft Glück brachte, und kannte seit jenem Tag das Gefühl, vom Betze „gerufen“ zu werden. Zwar setzte ich meinen Drang in den letzten Spielen der laufenden Saison nicht mehr in die Tat um und verfolgte die den Klassenerhalt perfekt machenden Siege bei Waldhof Mannheim, gegen Homburg und gegen Mönchengladbach am Radio, doch dachte ich fortan nicht mehr an den FCK allein, sondern immer zugleich auch an sein Stadion.
Ich baute den Betzenberg quasi in meinen Alltag ein, und um ihn immer schön vor Augen zu haben, bastelte ich ihn zunächst einmal aus Papier. Ungewöhnlich daran war die Tatsache, dass ich im normalen Leben Bildende Kunst und ganz speziell Basteln verabscheute. Doch hier ließ ich Sorgfalt walten, malte das grüne Spielfeld maßstabsgetreu und setzte geschätzte 38.000 Pünktchen auf die Zuschauerränge. Ich vergaß auch das Dach nicht, versah die Westtribüne mit großen rot-weißen Fahnen und bemühte mich sehr, die Neigung der Flutlichtmasten einigermaßen detailgetreu hinzubekommen. (Psychologen werden ihre Freude daran haben, dass ich die großen Fahnen und die vier Flutlichtmasten so liebte.) Der papierne Betzenberg thronte ab sofort über meinem Bett.
Nach der Europameisterschaft im eigenen Land, bei der Wolfram Wuttke viel zu selten eingewechselt worden war, kamen die Sommerferien und mit ihr die schreckliche fußballlose Zeit. Meine Sommerferien waren meistens langweilig, denn in Urlaub fuhren wir eher sporadisch, und die Anwesenheit Gleichaltriger im Dorf hielt sich um diese Jahreszeit in überschaubaren Grenzen. Natürlich gab es ein Freibad in der nicht weit entfernten Kreisstadt, doch mein Fahrrad fand nur selten den Weg dorthin. Meist bedurfte es der Motivation anderer, um mich meinen Tagträumen zu entreißen und hinaus ins wirkliche Leben zu ziehen. Auf größere Menschenansammlungen konnte ich in der Regel verzichten. Lieber spazierte ich durch den Wald, dachte dabei an dieses und jenes, und zwischendurch blitzte mir immer wieder der Betzenberg durchs Hirn. Ich hörte mich den Stadionsprecher imitieren. Auf Kassette nahm ich auf, wie ich die Mannschaftsaufstellung von Bayern München verkündete und mich zeitgleich selbst ausbuhte, um dann bei der des 1. FC Kaiserslautern in Jubel auszubrechen.
Die Sitte, dass der Stadionsprecher nur den Vornamen der Spieler ausruft und das Skandieren der Nachnamen den Fans überlässt, war damals nur im Eishockey üblich und wurde, ich mag mich täuschen, in der Fußball-Bundesliga erstmals im März 1989 bei der Partie 1. FCK gegen Bayern München angewandt. Bei jenem Spiel feierte ich mein Debüt in Block 7. Vor meinem geistigen Auge sehe ich Udo Scholz, wie er vor der Westkurve stehend das neue System erklärt und ein paar Probedurchgänge durchführt: „Mit der Nummer eins im Tor Gerry …“ „Ehrmann!!!“ „Die zwei trägt unser Kay …“ „Friedmann!!!“ „Mit der drei kommt zu uns Tom …“ „Dooley!!!“ „Und auch der Nummer vier wünschen wir viel Glück, unserem Axel …“ „Roos!!!“ Usw. Bis heute hat sich das Imitieren des Stadionsprechers (des früheren, nicht des aktuellen) in meinen Verhaltensweisen niedergeschlagen. So verspüre ich, wann immer ich irgendwo einen Gong höre, das drängende Bedürfnis, in Scholz’schem Singsang „Spielerwechsel beim 1. FC Kaiserslautern“ zu rufen, was, wenn ich ihm nachgebe, je nach Situation zu amüsierten oder irritiert-anklagenden Blicken in meiner Umgebung führen kann. Auch Werbesprüche aus dieser Zeit sind mir in Fleisch und Blut übergegangen und werden von mir, obwohl sie verständlicherweise niemand hören will, immer wieder gern rezitiert: „Immer dann, wenn’s ums Geld geht, gehen wir zur Stadtsparkasse. Denn über