Schön war es jedenfalls, dass Tore fielen, vor der Halbzeitpause zwei durch Harald Kohr, eines davon (oder waren es beide?) wunderschön über den rechts durchpreschenden Hans-Werner Moser vorbereitet, so dass ich schon nach kurzer Spieldauer lernte, im Kollektiv zu jubeln. Diese Bewegung, das gemeinsame Aufstehen und Applaudieren, war mir trotz aller Begeisterung fremd, so dass meine Reaktion stets einige Momente nach der der restlichen Tribüne erfolgte. Spätestens nach den beklatschten Toren hatte aber auch ich begriffen, dass unser vermeintlicher Dauerkartennachbar ein Freund der Frankfurter Eintracht war, der sich nun in immer größere Klageorgien hineinsteigerte, der bei jedem Dribbling des schnellen Sergio Allievi aufsprang und seinen Abwehrmann anflehte, anbetete, warnte („Der geht innen vorbei!“) und, nachdem doch wieder alles nichts geholfen hatte, seiner eigenen Hoffnung nachwimmernd („Ich sag doch, der geht innen vorbei!“) dazu überging, seine heißgeliebte, im Verlieren begriffene Mannschaft zu beschimpfen. Erst viel später sollte ich verstehen, was Menschen dazu antreibt, aus Fußballern Götter zu machen, die sie im Versagensfall zum Teufel jagen, verfluchen, ja hassen, was mitunter jedoch durch einen einzigen Torschuss wieder in rauschende Erlösung umschwenken und somit bald in kritiklos glorifizierte, ruhmreiche Vergangenheit verwandelt werden kann. Unser Eintracht-Freund jedenfalls durchlebte diese Wandlung, denn nachdem Harald Kohr kurz nach der Pause die Riesenchance zum 3:0 leichtfertig vergeben hatte, verflachte das Spiel, und Frankfurt schoss sich durch den unglaublich bescheuert frisierten Frank Schulz sowie den Polen Janusz Turowski zum Ausgleich. Und ich tat, was ich im Fritz-Walter-Stadion nie mehr tun sollte: Ich stand auf und applaudierte nach den Toren der Gastmannschaft.
Ob ich dies aus Höflichkeit gegenüber meinem Nachbarn und den, wie sich bei den Toren zeigte, doch recht zahlreichen Frankfurter Fans tat, oder ob ich als Dreizehnjähriger schlicht noch eine andere Auffassung von Sportsgeist in mir trug, die auf und neben dem Fußballplatz nicht allzu weit verbreitet war, kann ich nicht mehr sagen. Letztendlich war ich zufrieden mit dem Unentschieden vor etwas mehr als 21.000 Zuschauern (ich hätte die Menge größer eingeschätzt, wohl auch beeinflusst durch den in der Vorsaison erreichten neuen Zuschauerrekord von durchschnittlich über 26.000 Besuchern), denn ich glaubte dadurch an eine friedlichere Grundstimmung zwischen den beiden Fanfraktionen, die ich trotz der Faszination, die sie auf mich ausgeübt hatten, auch nach dem Spiel noch mit Vorsicht beäugte. Vater schließlich machte den Vorschlag, im Stadion zu bleiben und die abwandernden Massen zu beobachten, um im Anschluss noch über Lautsprecher den obligatorischen Pressekonferenzen zu lauschen. Gesagt, getan. Wir entspannten, schauten und hörten die analysierende Stimme von Hannes Bongartz, den ich ob seiner spielerischen und lockeren Art mochte wie keinen anderen der Lauterer Trainer seit Kalli Feldkamp, und verließen das Stadioninnere eine knappe halbe Stunde nach Spielende. Draußen wartete das Chaos.
Es wäre falsch, die Illusion zu verbreiten, ich hätte in meinem vorherigen Leben keinerlei Gewalt erfahren. Sehr wohl kannte ich die Grausamkeiten, die Kinder zuweilen untereinander ausüben, seien sie verbaler oder physischer Art, und ich hatte mich schon des Öfteren den obligatorischen Rangeleien zwischen Gleichaltrigen stellen müssen, die nicht immer als Spaß abgetan werden konnten, sondern vielfach aus ernstzunehmenden Aggressionen erwuchsen. Ich wusste, was ein Schwitzkasten war, wusste, wie es sich anfühlte, ins Gesicht gespuckt zu bekommen, und wusste auch, wie unermesslich eine Wut emporsteigen und nach Ausbruch schreien konnte, wenn man sich durch verhöhnende Worte oder Taten provoziert sah. Ebenfalls wusste ich – in der Theorie –, dass der Mensch zum Töten fähig war, wenn er sich in die Enge getrieben oder im Dienste einer höheren, z.B. politischen Sache wähnte. Gehört hatte ich auch von Schlägereien unter Fußballfans, nur waren meine Vorstellungen von derartigen Massenrandalen relativ vage. Bis zu jenem 1. August 1987.
Das Erste, was mir nach Verlassen des Stadions auffiel, war ein schrecklich hasserfüllt dreinblickender Mann, der wie von Sinnen auf ein unmittelbar vor uns den Berg hinabgehendes Pärchen in roten Trikots einschrie. Welche Worte außer „Pfälzer Schweine“ er genau wählte, weiß ich nicht mehr, doch ich erinnere mich sehr wohl daran, dass weder ich noch mein Vater (was beruhigend gewesen wäre) in der Lage waren, sein beängstigendes Verhalten einzuordnen, weshalb wir mit angespannten, nunmehr beschleunigten Schritten gen Innenstadt marschierten.
Je weiter wir uns vom Stadion entfernten, umso mehr ineinanderverkeilte, schlagende, johlende Menschen sahen wir. Vater glaubte sogar, Frankfurter Fans auszumachen, die sich gegenseitig verprügelten. Interessant, warum sie dies taten, doch fehlte uns der für solch klärende Analysen sonst so hilfreiche Abstand einer Fernsehcouch. Wir waren mittendrin, sahen von Regenschirmen oder Schlagstöcken zum Bluten gebrachte Gesichter und hörten rund um uns geworfenes Flaschenglas klirren. Gefährliche Stimmen von hinten redeten gefährliche Worte, eines davon lautete „Butterfly-Messer“, und ich kann mich an überforderte Polizisten sowie eine starke Sehnsucht nach unserem Auto erinnern. Als wir dieses nach zwanzigminütigem Bürgerkrieg endlich erreicht hatten, wurde die Erleichterung getrübt durch grölende Frankfurter, denen es anscheinend Freude bereitete, um parkende Autos herumzutanzen und harmlosen Familienvätern samt deren Sprösslingen Angst einzujagen. In Zeitlupe ließen sie irgendwann von uns ab, und wir entglitten im Schneckentempo in den verstopften Kaiserslauterer Verkehr.
Selten war es schöner, die Autobahn erreicht zu haben, nach Hause zu kommen, gar paradiesisch. Den Betzenberg wollte ich so rasch nicht mehr sehen.
IV.
„Das ist der Betzenberg!“ – Rettung 1988
Ich weiß nicht, ob es „normal“ gewesen wäre, sich nach diesem durchaus traumatischen Erlebnis bewusst vom Fußball zu distanzieren. Tatsache war das Gegenteil, denn mein fiebriges Mitleiden nahm in der gleichen Weise zu, in der die spielerische Qualität des 1. FC Kaiserslautern abnahm. Die Mannschaft schlug sich in den folgenden Heimspielen zwar nicht immer schlecht, verlor aber bis in den Spätherbst hinein ausnahmslos jede Auswärtspartie und nach der 3:2-Niederlage in Homburg schließlich auch Trainer Bongartz, dessen Nachfolger Josef Stabel mit weiteren verlorenen Spielen gegen Nürnberg und in Mönchengladbach gleich die in ihn gesetzten Hoffnungen auf null zurückfuhr.
Kaiserslautern war nach der Hinrunde Letzter, was niemanden außer mir groß zu stören schien, denn irgendwann musste nach vernunftgesteuerter Auffassung ja auch einmal Schluss sein mit dem Vierteljahrhundert Erstligafußball in der Provinz. (Ich begreife bis heute nicht, warum Niederlagen und Abstiegsgespenster in Kaiserslautern stets vom wissenden Nicken der Experten begleitet werden, während sensationelle Wiedergeburten und irrationale Gewinne der Deutschen Meisterschaft zunächst geleugnet, solange sie noch vermieden werden können, angezweifelt, irgendwann mit fadenscheinigen Erklärungen abgetan und schließlich, kaum dass sie