Das Leben ist ein Fußballspiel. Bjorn B. Schmidt. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Bjorn B. Schmidt
Издательство: Bookwire
Серия: Werkstatt Fanbuch
Жанр произведения: Сделай Сам
Год издания: 0
isbn: 9783895336614
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in Mittelhessen. Es war der Herbst, in dem der des unlauteren Ehrenworts überführte schleswig-holsteinische Ministerpräsident Uwe Barschel tot in der Badewanne aufgefunden wurde. Auch mich hatte diese Nachricht betroffen, vermittelte sie mir doch eine unschöne Ahnung der tatsächlichen Dimensionen von Lüge und Verzweiflung in unserer Gesellschaft. Doch ich müsste meinerseits lügen, wenn ich behaupten würde, der Geburtstag meiner Schwester oder die Nachwirkungen des Barschel-Todes hätten meine Emotionen an diesem Wochenende entscheidend geprägt. Entscheidend war der Besitz eines Autoradios und damit verbunden die Möglichkeit, während der mehrstündigen samstäglichen Anreise über rheinland-pfälzische und hessische Autobahnen die Berichte von den Bundesliga-Plätzen zu verfolgen. Frank Hartmann und Amateur Jürgen Lutz, der Bruder des späteren zweifachen Deutschen Pokalsiegers und Meisters Roger Lutz, schossen die Tore zum sensationellen Auswärtssieg im Frankfurter Waldstadion. Wer Fan ist und den Abstiegskampf kennt, kann verstehen, was der Auswärtssieg eines abgeschlagenen Teams an einem tristen Nachmittag im Spätherbst für die geschundene Seele bedeutet.

      Mein Wochenende jedenfalls war gerettet, das von Fritz Walter übrigens auch, denn er sprach am Abend im Fernsehen von zwei wichtigen Punkten „im Kampf um den Abstieg“, und es störte mich nur unwesentlich, dass er nicht „Kampf gegen den Abstieg“ sagte. Würde Fritz Walter heute noch leben, könnte er sich – im Gegensatz zu meiner Schwester – wenigstens an den Tag ihres 22. Geburtstages erinnern, denn nichts ordnet die Vergangenheit besser als Fußballspiele. So weiß ich beispielsweise ganz genau, dass ich den euphorisch gefeierten 3:0-Triumph gegen den 1. FC Köln eine Woche später, es war ein knackig kalter Wintertag, Tischtennis spielend beim Nachbarsjungen verfolgte. Gebettet in der wohligen Watte samtenen Siegestaumels torkelte ich nach verlorenem Tischtennismatch dem Christfest entgegen.

      Glück ist trügerisch. Glück ist kurz. Um mich der Härte dieser Erkenntnis und gleichzeitig auch den Rattenfängern der Glückseligkeit zu entziehen, beschloss ich irgendwann in meinem späteren Leben, nicht mehr glücklich sein zu müssen. Nur wer auf Glück verzichten konnte, konnte Versicherungsvertretern, verführenden Frauen und religiösen Fundamentalisten mit einem klaren und entschiedenen Nein entgegentreten. „Deinem Leben fehlt etwas, du verfügst nicht über das optimale Maß an Versicherungsschutz, an Sex, an Spiritualität. Mit dem Erwerb meines Produktes trägst du zur Optimierung deines materiellen und metaphysischen Karmas bei, mit dem Verzicht darauf zu deinem Untergang.“ Also, ich musste nicht glücklich sein, ich war ganz zufrieden mit meinem Unglück, oder eben unzufrieden, auch egal.

      Sowieso schafft nur die Existenz des Unglücks die Möglichkeit des Glücks, genau wie mitteleuropäische Regenwolken dem von Zeit zu Zeit blauen Himmel erst seinen Wert geben. Friedrich Nietzsche behauptete, alle Lust wolle Ewigkeit. Aber nicht nur die Ewigkeit ihrer selbst, sondern aller Dinge Ewigkeit, was ich dem Grunde nach nicht verstehe, alltagssprachlich aber so deute, als bestünde die Glückseligkeit nicht bloß im Erblicken des gelobten Landes, sondern verlange im Vorfeld zwingend nach dem 40 Jahre währenden Umherirren in der Wüste. Freude verlangt Leid, Sieg verlangt Niederlage. Fußball will Glückseligkeit und verursacht damit definitionsgemäß Schmerzen. Einfacher ausgedrückt: Es ist Scheiße, ein Kaiserslautern-Fan zu sein! Zumindest in der Regel, also hauptsächlich in der Zeitspanne zwischen dem ersten Gegentor und dem die Niederlage besiegelnden Schlusspfiff. Die Frage ist nur: Wenn der 1. FC Kaiserslautern nach ein paar Siegen wieder in die Höllenspur der Niederlagenserien zurückfallen muss, darf ich dann gar nicht erst den Fehler machen, mich über die Siege zu freuen? Ehrlich gesagt birgt mein Erhabenheit suggerierendes „Ich muss nicht glücklich sein“ auch Schwächen. Klar muss ich nicht glücklich sein, aber es wäre doch schöner, wenn ich es wäre.

      Mit 13 Jahren war ich noch frei von derartigen Gedanken, die sich Erwachsene machen, wenn sie nicht ausgelastet sind. Mit 13 feierte ich Weihnachten auf dem zwölften Tabellenplatz, doch kaum hatte ich ein paar Wochen danach meine 14. Sonnenumrundung abgeschlossen, hörte der Verein wieder mit dem Gewinnen auf. Hier mal ein Unentschieden, da mal ein unverdienter Ausgleich in der Nachspielzeit – alles andere waren Pleiten, in der Regel klare und absolut unanfechtbare Niederlagen, bei denen meine Teufel in humorloser Manier ihre Grenzen aufgezeigt bekamen. Man näherte sich dem Tabellenende in just der gleichen schreckenerregenden Geschwindigkeit, in der auch die Saison sich dem Ende entgegenneigte: 0:3 in Stuttgart, 1:3 gegen Bayer Leverkusen, 0:3 in Dortmund.

      Der Frühling stand in vollem Saft, und eigentlich wäre es die Zeit gewesen, in der auch ein 14-jähriger Junge seine Säfte zur Reife hätte bringen müssen, doch alles, was ich fühlte, waren Tod und Verzweiflung. Der 1. FC Kaiserslautern, mein Verein, mein Ein und Alles stürzte im freien Fall Richtung zweite Liga. Niemand der Fachleute, aber auch niemand der vielen Fans im Südwesten rechnete damals damit, dass der 1. FCK nach einem Abstieg wieder zurückkommen würde. Nach dem Abstieg, so der allgemeine Tenor, würde der Verein in der Versenkung verschwinden, durchgereicht werden in die Oberliga, wie einst der FK Pirmasens oder Borussia Neunkirchen im Saarland. Kaum einer glaubte mehr an eine Rettung, und es kann kein Zufall gewesen sein, dass ich ausgerechnet in jener Zeit des drohenden Identitätsverlustes mein ultimatives, für immer prägendes Betzenberg-Erlebnis hatte, das mir den Glauben an die Möglichkeit des schier Unmöglichen geben sollte. Den Glauben, den ich noch immer in mir trage und der von Außenstehenden, sofern sie sich ernsthaft mit Fußball beschäftigen, zuweilen als krankhafter Optimismus und bodenlose Naivität verspottet wird. Dass diese Realisten Unrecht haben, weiß nur ich …

      Das Ganze hängt mit meiner Konfirmation zusammen. Sie fand im April statt, einige Wochen nachdem wir uns auf der Konfirmandenfreizeit in der Bibel blätternd nach Segnungssprüchen umgesehen hatten und ich Gefallen an Psalm 127 fand: „Es ist umsonst, dass ihr früh aufsteht und spät euch niedersetzt und euer Brot in Mühsal esst – den Seinen gibt’s der Herr im Schlaf.“ Leider konnte meine Mutter noch immer nicht von der Kirche lassen und verbot mir, den Spruch zu nehmen, da er bei der Einsegnung für unangemessene Heiterkeit sorgen würde. Brav und folgsam, wie ich zu meinem Leidwesen schon immer war, schwenkte ich um zum zweiten Korintherbrief: „Denn der Herr ist der Geist. Wo aber der Geist des Herrn ist, da ist Freiheit.“ Der damalige Standard-Satz „Gott ist Liebe und wer in der Liebe bleibt, der bleibt in Gott und Gott in ihm“ war bereits besetzt, so dass der Kelch des Nullachtfünfzehn-Konfirmanden gerade so an mir vorbeiging.

      Schön an dem Tag war, dass wir Wein trinken durften – kein Blut, wie die Katholiken meinen – und uns ein bisschen wie Erwachsene fühlten. Schön waren auch die Geschenke, viele Geschenke, oft Geld, und unermesslich groß war die Zahl der Glückwunschkarten. Auch mein Bruder machte mir ein Geschenk. Es ist eines von drei Geschenken meines Bruders aus meiner (im weiteren Sinne) Kinderzeit, an die ich mich noch erinnern kann. Als ich fünf wurde, schenkte er mir einen selbst gefertigten Wandhampelmann, eine saubere Laubsägearbeit, die lange Jahre die Wand meines inkonsequent eingerichteten Jugendzimmers zierte – neben Hunderten von Bierdeckeln und etlichen FCK-Postern. Als ich zehn wurde, schenkte er mir ein besseres Bilderbuch, was mich sehr verletzte, denn es zeigte mir, dass er sich entweder keine Gedanken gemacht hatte oder mich noch für ein kleines Kind hielt. Doch zu meiner Konfirmation schenkte er mir etwas ganz Brauchbares: Es sollte ein paar Tage später zum ersten Mal in der Geschichte des Deutschen Fußball-Bundes ein Länderspiel der A-Nationalelf in Kaiserslautern ausgetragen werden. Man konnte dies als eine Art Anerkennung gegenüber den im Fritz-Walter-Stadion getroffenen Umbaumaßnahmen verstehen (aus der halbrunden Westkurve war eine überdachte Westtribüne geworden, was die Fans ursprünglich mit Pfiffen kommentiert hatten, denn sie konnten nun durch die das Dach abstützenden Pfeiler ihre aus der italienischen Serie A abkopierte größte aller Bundesliga-Fahnen nicht mehr ausrollen), und mein Bruder hatte mich ein paar Tage vorher gefragt, ob ich das Spiel wohl gerne anschauen würde. Natürlich hätte ich Deutschland gegen die Schweiz nicht uninteressant gefunden, doch das Spiel sollte auch im Fernsehen übertragen werden, weswegen ich lieber ehrlich blieb und antwortete, dass ich das drei Tage danach stattfindende Abstiegsendspiel Kaiserslautern gegen Bayern München bevorzugen würde. Die Eintrittskarte hierfür bekam ich zur Konfirmation geschenkt. Groß, grün, überdimensioniertes FCK-Emblem, in kleineren Blockbuchstaben daneben „FC Bayern München“, der obligatorische Werbeschnickschnack und, zu meinem Erschrecken, die Platzangabe: Westtribüne, Block 11.

      Ich gebe offen zu: Ich hatte ein bisschen Bammel vor der Westkurve. Nicht nur, dass ich