Der 30. April 1988 war ein schöner Tag. Ich mochte das Datum schon immer, denn es war bei uns üblich, am Vorabend des Tages der Arbeit die sogenannte Mainacht oder Hexennacht zu feiern. Das bedeutete das abendliche Sammeln an einem großen, über Wochen hinweg aufgetürmten Scheiterhaufen und im Anschluss an dessen Herunterbrennen das langsame und möglichst lautlose Abtauchen in die dörfliche Dunkelheit. Hexennacht war quasi legalisiertes Klauen. Alles, was nicht niet- und nagelfest war, wurde von den heimtückischen Hexen, also den Kindern und Jugendlichen, mitgenommen und an einem anderen Ort versteckt. Am nächsten Morgen konnten die Dorfbewohner dann ihre Sachen suchen, sofern sie nicht auf der Hut gewesen waren oder, wie mein Vater, bewusst ein paar ältere Gegenstände vor der Türe hatten stehen lassen, um sich derer auf elegante Weise zu entledigen.
Für mich waren diese Abende prickelnd. Ich ging in der Regel mit Christoph Bader, der eine ähnlich professionelle Einstellung wie ich an den Tag legte, was für uns hieß, in eine Agentenwelt der Observationen und Codewörter abzutauchen. Verachtung schenkten wir den Vandalen, denen nichts einfiel, außer Klingeln und Telefonzellen mit Senf zu beschmieren oder Toilettenpapier um geparkte Autos herumzuwickeln. Am besten gefiel mir die Hexerei so mit zehn, elf Jahren, und zum letzten Mal ging ich, als ich 15 war. Da war es schon weniger spannend, und mit Jonas Gutmann und Morten Pitz zusammen hatten wir damals auch ein bisschen den Bogen überspannt, indem wir einem US-amerikanischen Dorfbewohner, der mit den hiesigen Bräuchen wohl nicht so vertraut war, die komplette Golfausrüstung aus seinem offenen Gartenhäuschen heraus entwendeten. Da wir uns noch nicht einmal die Mühe gegeben hatten, nicht von Dritten gesehen zu werden, kam die Sache bald heraus, und der Amerikaner ließ es schließlich nach längeren und hitzigen Diskussionen bei der aus seiner Sicht wohl milden Androhung bewenden, das nächste Mal, wenn wir uns seinem Grundstück nähern würden, direkt zu schießen.
1988 jedenfalls freute ich mich noch auf die Mainacht und wäre deshalb auch ohne die Aussicht eines Bayern-Gastspiels auf dem Betzenberg euphorisiert gewesen. Der Himmel war strahlend blau, und zum Glück wusste ich damals noch nicht, dass „Fritz-Walter-Wetter“ genau das Gegenteil davon bedeutete. Bereits auf der Anfahrt versank ich in meditatives Nachdenken über die unfassbare Bedeutung der Partie gegen diesen so unfassbar starken Gegner. Es war vollkommen klar, dass wir gewinnen mussten, aber es war eigentlich genauso klar, dass wir verlieren würden. Mein Bruder drückte es, am Steuer seiner ockergelben Golf-Diesel-Dreckschleuder sitzend, anders aus: „Wenn die Lautrer nicht aufpassen, spielen sie nächstes Jahr sonntags.“ Ich verstand diese Formulierung, doch ich verstand nicht, warum er diese Katastrophe meinenden Worte so gelassen aussprach. Hieß Abstieg nichts anderes, als in der nächsten Saison zu anderen Anstoßzeiten gegen schwächere Mannschaften zu spielen? Für das Jugendteam meines Heimatvereins mochte dies zutreffen, aber für den 1. FC Kaiserslautern? War mein Bruder ein Fan? Der Gedanke an den Abstieg ließ mich schaudern. Ihn gelassen auszusprechen war, als ob man über einen möglicherweise sterbenden, einem nahestehenden Menschen sagen würde: „Wenn die Mediziner keine erstklassige Arbeit leisten, tragen wir nächste Woche schwarz.“ Wenn Tod auch nichts anderes war als der Wechsel von einer Sphäre in die andere, so gab es doch keine bangenden, keine trauernden Menschen, die dies so emotionslos aussprechen würden. Abstieg war Sterben, über den Zustand des Abgestiegenseins mochte ich keinen Gedanken verlieren.
Während der Fahrt erfüllte mich zum ersten Mal die Sorge, die sich mit den Jahren immer mehr in neurotischem und zwanghaftem Verhalten manifestieren sollte: die panische Angst, zu spät zu kommen. Damals war sie durchaus berechtigt, denn mein Bruder wollte uns – seiner Freundin, die sich als Bayern-Fan ausgab, und mir – beweisen, wie ortskundig er war. Wir kurvten sinnlos durch Kaiserslautern, nachdem wir schon auf der Autobahn sinnlos im Stau gestanden hatten, und ich war der festen Überzeugung, dass wir das Stadion nicht mehr erreichen würden. Endlich parkten wir irgendwo zwischen Universität und Dunkeltälchen und marschierten, so stramm es die Umstände zuließen, bergan. Milde Lenzluft und die nach wie vor strahlende Sonne machten meinen hellroten Pullover eigentlich unnötig, doch ich ließ ihn lieber an, denn er hatte mich schon beim ersten Mal begleitet, und gemeinsam waren wir noch unbesiegt.
„Denn wir in der Pfalz bauen auf Mmmmmüllermilch!“, waren bald die ersten Geräuschfetzen, die aus dem Stadioninneren an mein Ohr drangen, verbunden mit entschlossenen Schlachtgesängen, die sich von der Rückseite der kargen Betontribünen aus anziehend und zugleich bedrohlich anhörten. Wir liefen hinter der kompletten Westkurve entlang, betraten schließlich den äußeren Eingang zu Block 11, und wieder hatte ich, wie schon bei meinem ersten Stadionbesuch, dieses erschlagende Gefühl von „grün“. Diesmal jedoch aus nächster Nähe, keine drei Meter oberhalb der Eckfahne stehend mit sich aufwärmenden, kurze Hosen und rote Trainingspullover tragenden FCK-Profis vor Augen. Das Stadion war voll, viel voller als beim letzten Mal. Die meisten der rot-weißen Fahnen ragten etwa 30 oder 40 Meter rechts von uns aus der Masse, wir waren also tatsächlich nicht im Kern gelandet. Schnell stiegen wir den gelb markierten Aufgang empor und fanden ziemlich oben im Block ein bisschen Platz. Da Block 11 deutlich niedriger war als der Rest der Westtribüne, hielt sich der Abstand zum Spielfeld in überschaubarem Rahmen. Während des Emporsteigens hatte ich den Mannschaftskapitän unseres C-Jugendteams gesehen, der genau wie ich und ein dritter Kamerad das heutige Punktspiel gegen eine unterirdisch schlechte Truppe geschwänzt hatte, um die Bayern zu sehen. Das Hinspiel, auswärts, hatten wir mit 19:0 Toren gewonnen, und noch heute schäme ich mich dafür, in jener Begegnung keinen Treffer erzielt zu haben. Immerhin war ich etwa ein Dutzend Mal mit voller Absicht vom gleichen frustrierten schlechten Verlierer gefoult worden, was mir zumindest ansatzweise das Gefühl vermittelte, etwas geleistet zu haben. Bestärkt sollte meine Unverzichtbarkeit für die Mannschaft noch werden, als ich Tage später erfuhr, dass das ohne mich stattfindende Rückspiel, trotz Heimvorteils, nur mit 7:0 gewonnen wurde.
Obwohl für den FCK an jenem Tag ganz und gar kein klarer Erfolg zu erwarten war, zeigte sich die Westtribüne vor dem Anpfiff in farbenfroher, lautstarker und sangesfreudiger Manier. Dass eine Mannschaft, die in den vorangegangenen Wochen nur verloren hatte, bereits beim Warmmachen frenetisch gefeiert wurde, gefiel mir. War es das Pfeifen im Walde? Immer wieder wanderten meine Blicke nach rechts, wo klatschende Hände auf und nieder wogten und vielkehlige Choräle unter das Tribünendach geschmettert wurden. Zum ersten Mal in meinem Leben hörte ich bewusst das Betzenberglied, eine volkstümlich-kindliche Weise, zu der man sich die im Kreis tanzenden Marionetten der Augsburger Puppenkiste hätte vorstellen können. Der Refrain lautete: „Oleee Oleee, Oleee Olaaa, der FCK ist wieder daaa! Oleee Oleee, Oleee Olaaa, die Roten Teufel sind ganz wunderbaaar!“ Die letzte Strophe schloss mit dem Vers: „Wenn am Schluss wir dann doch Sieger sind, dann ist es allen klar – so lang’s in Deutschland Fußball gibt, gibt es auch den FCK!“ Die Menschen um mich herum schienen dieses Lied auswendig zu kennen und sangen es andächtig, beinahe beschwörend mit. Den Refrain schmetterte die gesamte Westtribüne in einem derart hohen Tempo, dass man nach ihrem Verstummen die letzten Worte noch einmal über Stadionlautsprecher mithören konnte. (Übrigens hat sich die Art des wilden, zu schnellen Mitsingens dieses Liedes nicht über die Jahrtausendwende hinweg halten können. Mittlerweile bleiben die Fans im Originaltempo, füllen kurze Phasen des Bandgedudels mit Händeklatschen und erweitern die Stelle „Jeder Klub ist uns willkommen, jede Mannschaft gern geseh’n“ mit dem bellenden Zwischenruf „Außer Bayern!“. Ob man diese leichte Abwandlung der Stadionliturgie begrüßen oder bedauern soll, weiß ich nicht. Grundsätzlich neige ich zum Bedauern von Veränderungen, da früher bekanntlich alles besser war. Wenigstens sind die beiden vor der Westtribüne auf und ab springenden Teufelchen geblieben, die mich, warum