Im zweiten Durchgang wurde auf die Westtribüne zugespielt. Es kam zu ein paar Chancen, aber nicht zu Toren, so dass man zehn Minuten vor Spielende ein quälendes 0:0 befürchten musste. Die Begeisterung für den neuen Stürmer Bruno Labbadia hatte sich nach nunmehr sechs oder sieben Spielen ohne Torerfolg deutlich gelegt und war missmutigen Zuschauerkommentaren gewichen: „Der ist steif wie ein Brett!“, „Der steht immer mit dem Rücken zum Tor, wie will er da treffen?“, „Wenn ich sehe, wie der Labbadia sich dreht, krieg ich die Krise.“ Zehn Minuten vor Ende stand dieser Labbadia frei im Strafraum und wurde gefoult. (Oder trügt meine Erinnerung, und es war in Wirklichkeit Sergio Allievi? Fakt ist: Minuten vor Spielende wurde bei ausgeglichenem Spielstand in chancenarmem Spiel direkt vor den Augen der FCK-Fans ein Lauterer Spieler im Strafraum umgesäbelt. Zweifelsfrei und für jedermann zu erkennen.) Und der Schiedsrichter? Versagte den Elfmeter! Zum ersten Mal in meinem kurzen Stadionleben sah ich die Westtribüne außer Rand und Band! Es wurde nicht gepfiffen, es wurde ohrenbetäubend gepfiffen! „Schieber!-Schieber!“-Rufe brandeten auf und wurden durchmengt von düsteren Gesängen über die „Schwarze Sau“. (Ein Grund eventuell dafür, dass die Schiedsrichterkleidung irgendwann auf grün, gelb und rot erweitert wurde, denn „Grüne Sau“ kam emotional aufgeladenen Menschen seltener in den Sinn.) Spieler hoben lamentierend die Arme, doch der Gegenzug des FC St. Pauli lief ungebremst Richtung Lauterer Tor. Und nun gab der Schiedsrichter Elfmeter! (Aus Angst, als „Heimschiedsrichter“ zu gelten, scheuten es viele Unparteiische, in unklaren Situationen Entscheidungen für Kaiserslautern zu treffen. Aber innerhalb einer Minute zweimal krass gegen die Roten Teufel zu pfeifen, das hatte schon etwas Verwegenes …)
War die Westtribüne eben noch auf 180, so war sie nun auf 280! Mit ihr das ganze Stadion, die Spieler eingeschlossen, die nun eine Traube um den Referee bildeten. Es kam zu Handgreiflichkeiten unter den Profis, und aus deren wütender Mitte ragte jener Muskelmann heraus, der immer dort zu finden war, wo es nach Ärger roch: Gerry Ehrmann. Ich weiß nicht mehr, ob die Schiedsrichterentscheidung richtig oder falsch war, aber ich weiß, dass es Minuten dauerte, ehe sich ein St.-Pauli-Spieler den Ball auf den Punkt legen konnte. Und bevor er anlief, kam, den abermaligen Aufschrei der aufgeheizten Masse provozierend, Gerry Ehrmann noch einmal zum Schützen gelaufen und sprach ihm ein paar freundliche Worte ins Ohr. Erst dann zog er sich auf die Linie zurück, begleitet von ohrenbetäubenden „Ehrmann-Ehrmann“-Rufen, (die Kuckucksterz, die jeder Fan im Schlaf beherrscht). Zu schrillsten Pfiffen lief der Gegner an, und infernalischer Lärm trat an ihre Stelle, nachdem Ehrmann gehalten hatte! Der Ball war platziert geschossen, doch der „Tarzan“ hatte ihn mit einem katzenhaften Sprung entschärft („Eeeehrmann!“, „Eeeehrmann!“ „Eeeehrmann!“). Morten und ich klatschten uns gegenseitig die Hände heiß und gerieten in Ekstase, als Bruno Labbadia wiederum im unmittelbaren Gegenzug sein erstes Tor für den 1. FC Kaiserslautern erzielte und danach fast den Zaun zur Westtribüne abriss! Der Betze bebte!!! Die Kurve beruhigte sich bis zum Spielende nicht mehr. Fahnen wehten, Arme wogten, Gesänge wollten kein Ende mehr nehmen. Es fiel mir auf, dass an verschiedenen Stellen in der Kurve zeitgleich verschiedene Lieder angestimmt wurden. Im Triumph ging die Einheit verloren, spaltete sich in ein Mosaik aus wogenden Armen, klatschenden Händen, wedelnden Schals, das sich irgendwann aber wieder zum überragenden Ganzen aus Lied und Gestik zusammenfand. Das später von Tony Marschall zu Geld gemachte „Oleee, Oleee, Oleee, Oleee“ wirkte mit einer zweiten, in tieferem Moll gehaltenen Strophe und ohne den albernen „Wir sind die Champions“-Halbsatz wie das Kampflied einer Seeräuberbesatzung. Und die Totenkopf-Flagge wehte nicht nur beim FC St. Pauli …
Nie im Leben hätte ich gedacht, dass der Nachmittag im Fritz-Walter-Stadion meinen Freund Morten dermaßen aus der Bahn werfen würde. Ihm fehlte einfach das Gerüst aus Sporthistorie und Tabellenfakten, in die er die Betzenberg-Eruption hätte einordnen können. Natürlich begriff er, dass der FCK das Spiel gewonnen hatte, doch er konnte überhaupt nicht verstanden haben, was es bedeutete, nun dank günstiger Ergebnisse der Konkurrenz statt Abstiegskampf auf einmal den UEFA-Cup in greifbare Nähe rücken zu sehen. Er konnte es nicht verstehen, weil diese Dinge eben keine objektive Bedeutung besitzen, sondern nur den Menschen betreffen, der mit ihnen seit Kindesbeinen verwachsen ist. Für Morten gab es bloß eine laute, identitätsstiftende Masse und ein neues Vorbild auf dem Weg zum Manne. In den Folgewochen tat er alles, was er tat, „für Gerry Ehrmann“. Insbesondere handelte es sich dabei um körperliche Anstrengungen oder kleine Mutproben, und es war interessant zu sehen, was ein schmächtiger Junge allein durch den Gedanken an einen austrainierten Muskelprotz aus seinem Körper herausholen konnte. Während einer unserer querfeldein führenden Radtouren sagte er einmal beim Anblick eines stehen gebliebenen Baumstumpfes: „Ich fahre jetzt über diese Wurzel – für Gerry Ehrmann!“ Als er es tat, überschlug sich sein Bonanzarad, und er stürzte so unglücklich kopfüber, dass ich mir sicher war, er habe sich das Genick gebrochen.
In den Sekunden, in denen Jonas und ich panisch losliefen, um einen Notarzt herbeizurufen, plagten mich tiefe Schuldgefühle. Ich hatte den Tod eines Menschen verursacht, weil ich ihn in eine Welt eingeführt hatte, in die er nicht hineingehörte. Was musste er, der sich überhaupt nicht für den Fußball interessiert hatte, auch in ein Stadion mitgeschleppt werden? Wie leicht hätte sich dieser idiotische Gerry-Ehrmann-Spleen vermeiden lassen. Ich haderte, während ich durch das Unterholz stolperte, und nahm kaum wahr, dass Morten uns zurückrief. Die Aktion hatte schlimmer ausgesehen, als sie war, denn Morten war durch den harten Aufprall bloß für einen Moment die Luft weggeblieben. Der Schrecken hatte dennoch ausgereicht, um ihn für die nächste Zeit von waghalsigen Gerry-Ehrmann-Gedächtnis-Stunts abzuhalten.
Für mich war ohnehin der stets sanfte und faire Ronnie Hellström das größere Vorbild gewesen. Zehn Bundesligajahre als Stammkeeper, ohne eine einzige gelbe Karte gesehen zu haben, und trotzdem absolute Weltklasse. Ronnie war einfach eine Nummer größer als die späteren Kahns und Lehmanns und wie sie sonst noch heißen mochten.
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