III.
Mein Stadiondebüt 1987
Am ersten Spieltag der Saison 1987/88 hatte ich meine endgültige Stadionpremiere. Es war kein Ereignis, auf das ich längerfristig vorbereitet worden war. Die Idee kam erneut von meinem Vater und wurde mir im Laufe desselben Vormittags verkündet. An den genauen Wortlaut kann ich mich nicht entsinnen, vermutlich war es ein unverfänglicher Satz wie: „Was hältst du eigentlich davon, heute einmal ein Bundesliga-Spiel live zu sehen?“ Es ist müßig, darüber zu diskutieren, was passiert wäre, wenn mein Vater diesen Satz nie zu mir gesagt hätte. Wahrscheinlich hätte ihn irgendwann jemand anderes zu mir gesagt, vielleicht ein Schulkamerad, natürlich nicht im gleichen Wortlaut, denn Schulkameraden reden nicht miteinander wie Väter mit Söhnen, denen sie etwas beibringen möchten. Wahrscheinlich wäre es Felix Berger gewesen, mit dem ich seit der fünften Klasse einen regen Austausch über Lautern hielt und der auch schon beim 5:1 gegen Köln in der Vorsaison auf dem Betze war. Aber wann hätte er mich gefragt? In dieser Saison? In der übernächsten? In der Abiturzeit? Und wie hätte ich geantwortet? Es war klar, dass ich meinem Vater die Einladung zu einem Stadionbesuch nicht abschlagen konnte, denn wenn er diese schon aussprach, dann war der Schritt ins Stadioninnere gewiss eine Sache, die ein Mann im Zuge seines Heranwachsens irgendwann hinter sich gebracht haben musste. Aber wenn ein Freund zum anderen sagt: „Wir fahren ins Stadion, fährst du mit?“, lässt sich dann daraus eine ähnliche Verpflichtung ableiten? Und hätte ich jemals aus eigenem Antrieb den Weg in Kaiserslauterns berühmteste Kurve gefunden? Vielleicht, aber vielleicht hätten die gleichen Wege in einer anderen Lebensphase nichts Nachhaltiges mehr in mir auslösen können.
Wir fuhren etwa eine Dreiviertelstunde über die Autobahn, sahen rot-weiße Schals, sahen auch schwarz-weiß-rote, mein Vater erklärte, ließ mich an seinem sozio-geografischen Fundus teilhaben (wo liegt das Haupteinzugsgebiet welches Vereins, und welche Anfahrtswege ergeben sich daraus für die jeweiligen Fangruppen?), fuhr KL-Ost ab (was ich bei kaum einem meiner zahlreichen noch folgenden Stadionbesuche mehr machen sollte), parkte am Messeplatz (was, wie sich herausstellen sollte, keine glückliche Wahl war), bestieg mit mir den Berg zu Fuß (was nicht unwichtig war, um die Bedeutung des Betzenbergs näher zu erfassen), kaufte zwei Sitzplatzkarten (Sitzplatzkarten sollte ich bis heute nur noch bei fünf weiteren Partien erwerben, und erst die letzte davon sollte siegreich enden) und stieg mit mir die Treppenstufen zur Südtribüne empor (ein Aufgang, der in seiner Schlichtheit nicht mehr mit den Einkaufspassagen ähnelnden Sitztribünen heutiger Prägung vergleichbar ist).
Mein erster und zugleich umwerfender Eindruck nach dem Schritt über die Schwelle ins Innere der Arena war: grün!!! Offengestanden bin ich nicht sicher, ob ich bis dahin überhaupt schon einmal einen Rasenplatz gesehen hatte, bestenfalls den einen oder anderen Wiesenacker in der Kreisliga, aber aus der Höhe einer Tribüne betrachtet den lichtdurchfluteten, frühnachmittäglichen, sattgrünen Untergrund auf sich wirken zu lassen, überstieg meine aus etlichen Fernsehübertragungen gespeisten Erwartungen. Das Fritz-Walter-Stadion war seit seinem letztjährigen Umbau des Öfteren als Schmuckkästchen bezeichnet worden, und ähnlich anerkennend äußerte sich auch mein Vater.
Wir setzten uns auf die durchnummerierten Holzbänke – keine Schalensitze – und ließen unsere Blicke schweifen. Uns gegenüber befand sich eine deutlich niedrigere Sitzplatztribüne, die Nordtribüne, unter deren Dach, wie mir mein Vater erklärte, die Fernsehperspektive ihren Ausgang nahm. Rechts und links von uns erhoben sich überdachte Stehtribünen, die mit unserer Südtribüne auf einer Höhe bündig abschlossen. An den Sperrgittern vor der rechten waren, obschon das Stadion noch relativ leer war, zahlreiche Transparente mit Aufschriften wie „Adlerfront“, „Hessenpower“ oder schlicht „Eintracht“ angebracht. Und schließlich zu unserer Linken erkannte ich die Westtribüne mit ihren spitz aufragenden, noch eingerollten rot-weißen Fahnen, die mir bereits im Fernsehen aufgefallen waren. Hier hielten sich zu diesem frühen Zeitpunkt anteilmäßig schon die meisten Zuschauer auf, welche in der Gesamtwirkung ihrer Kleidungswahl einen unübersehbaren rot-weißen Touch hinterließen.
Es war noch zu früh, um großartige Massenchoräle zu erwarten, und doch beobachtete ich fasziniert die Art, in der die verschiedenen Bereiche des Stadions miteinander kommunizierten. Dabei verstand ich beileibe nicht jeden aufdonnernden Applaus, nicht jedes Pfeifen von links oder rechts, doch erregten die Geräusche allemal meine Aufmerksamkeit und weckten in mir das Bedürfnis, ihnen auf den Grund zu gehen. Nicht weit hinter uns saß jemand mit einer der in den achtziger Jahren noch weit verbreiteten Drucklufttrompeten. Man kannte sie von diversen Länderspielübertragungen der deutschen Nationalmannschaft – meist extrem langweilige Partien, bei denen jeder der behäbig vorgetragenen Angriffszüge über Förster, Kaltz oder Magath mit langandauerndem Tröten begleitet wurde. Wie laut die Dinger waren, bekam ich nun am eigenen Leib zu spüren, und ich fragte mich, warum in einem erst zu einem Fünftel gefüllten Stadion, in dem noch lange nicht Fußball gespielt wurde, auf derart nervtötende Weise Krach gemacht werden musste? Doch ich registrierte noch etwas anderes: Von der Westtribüne aus antwortete eine zweite Tröte. Was immer auch diejenige hinter uns von sich gab, die Imitation folgte auf dem Fuß. Wenn man so wollte, handelte es sich dabei um einen Dialog: Die Westkurve sprach mit der Südtribüne und zeigte, dass sie kein abgeschlossener Verband kaltherziger Kollektivkreischer war, sondern offen für Außenstehende, offen für das Leben, für die Welt und für mich.
Bald schon – es war inzwischen voller und lauter geworden – setzte sich ein Mann mittleren Alters zu uns, der mich mit den Worten „Hallo Sportsfreund“ begrüßte. Es war mir sofort klar, dass dieser Mann ein regelmäßiger Stadionbesucher war. Vermutlich besaß er wie der Mann meiner pfälzischen Patentante eine Sitzplatz-Jahreskarte. Vermutlich gehörte er auch zu dem, was die Stadionzeitschrift, die damals noch Hinein hieß und nichts kostete, mit „unserem fairen und objektiven Publikum“ meinte, und ich freute mich darüber, zwischen meinem Vater und diesem fairen und objektiven Dauerkarten-Fan das Spiel verfolgen zu dürfen. Gefallen fand ich an der Wortgewandtheit des Stadionsprechers Udo Scholz, dessen humorvolle Art mir bereits ein gutes Jahr zuvor von einem Nachbarsjungen beschrieben worden war, nachdem dieser, ein Bayern-Fan, beim Spiel FCK–HSV sein erstes väterlich begleitetes Stadionerlebnis hatte. Scholz musste damals, nachdem der HSV uneinholbar in Führung gegangen war, mit den Worten kommentiert haben: „Und da kommt Stimmung auf, auf dem Betzenberg!“ Gefallen fand ich auch daran, den sich aufwärmenden Spielern zuzusehen, von denen ich den einen oder anderen von Weitem erkannte, und fasziniert war ich mehr und mehr davon, den aufbrausenden, durch wogende Bewegungen untermalten Schlachtrufen und Gesängen aus den beiden immer besser gefüllten Fanlagern zu lauschen, die sich gegenseitig überlappend, überlagernd, übertrumpfend („Eintracht!“, „Eintracht!“, „Eintracht!“ – „Oleee Effzekaahaa!“ –„Eintracht!“ – „Oleee, Olee, Oleee, Effzekahaa!“ – „Eintracht!“ –„Oleee, Olee, Oleeeee, Effzekahaa!“) steigerten, bis sie im Fahnenmeer der umjubelten Mannschaftsaufstellungen ihren vorläufigen Höhepunkt fanden. Mein Vater kreuzte im Stadionheft die 22 links wie rechts nominierten Spieler an, Weinrot und Weiß-Schwarz betraten unter allgemeinem Applaus das Schlachtfeld, die Saison 1987/88 hatte begonnen.
An allzu viele Details dieser Begegnung kann ich mich nicht mehr erinnern. Dass der 1. FC Kaiserslautern dominierte, war zwar angenehm, doch im Vergleich zu den zahlreichen Radio-reportagen, bei denen ich nach aufsehenerregenden „Tor“- und „Elfmeter“-Schreien mit angehaltenem Atem auf erlösende oder deprimierende Erläuterungen des Berichterstatters gewartet hatte, wurde mein Nervenkostüm