Alles Gründe, die Anfahrt nicht mehr erwarten zu können, die sich dann auf der Rückbank eines niedrigen Honda-Sportwagens sitzend relativ unkomfortabel gestaltete. Ich war gespannt, für welchen Block wir Karten nehmen würden, denn Kim hatte mir mitgeteilt, sein Onkel stünde normalerweise in Block 9. Block 9, das waren zwei Blöcke rechts von Block 11, den ich kannte, also zwei Blöcke Richtung Epizentrum. War ich dafür bereits reif? Die Frage stellte sich nicht, denn das Spiel war trotz schlechten Wetters so gut besucht, dass wir wieder mit Block 11 vorlieb nehmen mussten. Diesmal standen wir jedoch nicht am rechten Rand zu Block 10, sondern ganz links an der Grenze zur Nordtribüne, deren Dach uns einen Teil der kontinuierlich fallenden Regentropfen vom Leib hielt. Immerhin hatten wir von hier aus den Rest der Westkurve bestens im Blick.
Vor dem Anpfiff wurde ich unruhig, weil ich den Eindruck hatte, der Borussenblock würde mehr Stimmung verbreiten als die Lauterer Seite. Dass Auswärtsfans meistens einen Tick mehr an Sangeskraft investieren, um auf sich aufmerksam zu machen, wusste ich noch nicht, und ich fragte mich, ob sich der Betzenberg, wie ich ihn vom letzten Mal her kannte, noch im Winterschlaf befand. Erleichtert registrierte ich die hie und da erwachenden FCK-Gesänge, deren Lautstärke dann doch die Gladbacher Bemühungen in den Hintergrund drängte.
Udo Scholz erntete vor dem Spiel warmen Applaus, als er Gerry Ehrmann zum 30. Geburtstag gratulierte. (Komisch, dass mir 30 als Fußballeralter heute ebenso alt wie damals vorkommt, obwohl ich die Barriere selbst schon übersprungen habe und auf 30-Jährige wie ein Schüler auf Kindergartenkinder herabschauen müsste.) Zu Begeisterungsausbrüchen rührte Scholz den Fanblock, als er seine Laudatio auf den in der Winterpause vom HSV ausgeliehenen jungen Stürmer mit den Worten abschloss: „Herzlich willkommen, Bruno Labbadia!“ Ich fand es beeindruckend zu sehen, wie ein Spieler, dessen Namen man als Beobachter der Bundesliga zwar kannte, den man aber nicht liebte, in den Kreis der Familie aufgenommen und mit Trommelwirbel, Konfettiregen und „Bruno!-Bruno!“-Rufen empfangen wurde. Welche unglaublichen Höhen und Tiefen dieser Mann während seines zweieinhalbjährigen Gastspiels in der Pfalz durchleben sollte, ahnte wohl keiner der knapp 25.000 an jenem regnerischen Februartag Anwesenden.
Das Spiel und damit eingeschlossen die Leistung Bruno Labbadias bewegte sich auf äußerst mäßigem Niveau. Interessant, dass ich mich durch den Grottenkick in meinem Genießen der Stadionatmosphäre und der damit verbundenen immerwährenden Hoffnung auf Tore überhaupt nicht beeinträchtigen ließ. Ganz im Gegensatz zu einem wortgewandten Sportsfreund hinter uns, der permanent von seinen „05ern“ schwärmte, deren Oberliga-Darbietungen in jedem Fall noch dem unansehnlichen Gebolze des 1. FC Kaiserslautern überlegen sein mussten. Als in Block 8 Mitte der zweiten Halbzeit „Marmor, Stein und Eisen bricht“ angestimmt wurde, was mich berührte, da es den moralischen Kodex wahrer Fußballfans zum Ausdruck brachte, kommentierte unser realitätsorientierter Sportsfreund nur trocken: „Ich verstehe gar nicht, wie man bei dem Gegurke noch treu bleiben kann.“ Und schon schwelgte er wieder in Lobeshymnen auf seine Mainzer, die es gut 15 Jahre danach tatsächlich noch in die Bundesliga schaffen sollten. Der Mann hat’s gewiss vorausgesehen …
Die einzigen Höhepunkte des Spiels waren eine gute Gerry-Ehrmann-Parade und ein strammer Fernschuss von Olympiamedaillenträger Michael Schulz, der in der zweiten Halbzeit fast noch den Siegtreffer gebracht hätte. In der Westkurve brandete Stimmung auf, als ein Gladbacher kurz vor Schluss die rote Karte sah, doch leider reichte es trotzdem nicht zum Sieg. Das 0:0 bedeutete für mich immerhin, meinen Nimbus aufrechterhalten zu haben. Die fachlichen Diskussionen im Anschluss an das Spiel, als das murmelnde Volk sich gegenseitig erklärte, warum es so und nicht anders ausgegangen war, lehrten mich, dass Axel Roos auf seiner rechten Außenbahn nicht das gebracht hatte, was er sonst im Zusammenspiel mit Frank Hartmann zu bringen imstande war. Hätte er es gebracht – jaaaah, dann … hätten sich die Gladbacher warm anziehen müssen. Übrigens glaubte mein Freund Kim während des Spiels eine Schlägerei in Block 10 entdeckt zu haben – das Fritz-Walter-Stadion war also nach wie vor ein gefährlicher Ort.
Die Tatsache, mal wieder auf dem Betzenberg gewesen zu sein, beruhigte mich, doch ich hatte das unbestimmte Gefühl, es dieses Mal keine zehn Monate mehr aushalten zu können, bis ich den Ort der Orte erneut betreten würde. Nach vier Wochen, in denen ich auf intensivste Art den Geschehnissen via Radio, Fernsehen, Kicker, Tageszeitung und Videotext gefolgt war, wurde ich rückfällig. Diesmal Block 7, ganz nah am Kern und dann auch noch gegen Bayern München.
Das Stadion war ausverkauft. Es war das Spiel, bei dem Udo Scholz das neue Mannschaftsaufstellungsritual einführte, und es war ein ausgenommen freundlicher Frühlingstag. Ich fuhr mit zwei Schulfreunden, beide Bayern-Fans, einer davon sogar aus München stammend, und einem der dazugehörigen Väter mit. Dass die Bayern-Fans an Karten für Block 7 gekommen waren, zeigt, wie wenig Dauerkarten zur damaligen Zeit noch verkauft wurden. Gespannt war ich, wie die wild wirkende Westkurve mit den Außenseitern umspringen würde. Zu meiner Überraschung musste ich 15 Spielminuten, nachdem eine in der Pfalz lebende bayrische Nonne den Anstoß ausgeführt hatte, feststellen: relativ humorvoll. Norbert Nachtweih hatte einen Freistoß zum 0:1 verwandelt, und meine Schulkameraden hatten als einzige Besucher der Westtribüne hemmungslos gejubelt. (Wie sehr hatten sie dieses arrogante bajuwarische Selbstverständnis verinnerlicht. „Mir sann mir“, vergleichbar der eingebauten Vorfahrt eines Mercedes. Dass sie sich nicht schämten, ihren schlechten Geschmack so offenzulegen …) Die schweigenden Fans um uns herum ließen sich nur ein bittersüßes Grinsen entlocken, das aber um so breiter wurde, als Axel Roos nur eine Minute später von halbrechts den Ausgleich erzielte. Was waren meine Freunde überrascht, dass Kaiserslautern so rasch gegen die „Mir-sann-mir-Bayern“ zurückschlug. Und was staunten sie über den Stimmungsorkan, das rot-weiß-rote Fahnenmeer, die Choräle („Oleee Effzeekaaaha …“) und den Siegesoptimismus, den plötzlich alle wieder ausstrahlten. Entsprach es überhaupt ihrer Vorstellungskraft, dass hier keiner Angst vor den Bayern hatte? Merkten sie nicht, dass sie ihre Fußballliebe für eine Idiotie hergaben, anstatt sich auf die Seite der bodenständigen Guten zu schlagen?
Lange Jahre stellte ich mir die Frage, was einen Menschen dazu antreibt, Anhänger des FC Bayern München zu werden. Genau genommen habe ich bis heute noch keine abschließende Antwort auf die Frage gefunden. Es ist mir weiterhin ein Rätsel, wie die beiden schier Lichtjahre voneinander entfernten Welten der Fußballfans auf der einen und des FC Bayern auf der anderen Seite zusammenfinden konnten.
Der Grundzustand eines Fußballfans ist der des Leidens. Im Sommer leidet er, weil keine Fußballspiele stattfinden, und den Rest des Jahres über leidet er, weil seine Mannschaft verliert. Wenn er das Pech hat, zu ganz besonders schlechten Mannschaften wie z.B. dem 1. FC Saarbrücken zu halten, ist die Gefahr groß, dass am Ende einer Saison noch eine extra intensive Leidenszeit dazu kommt, in welcher der Abstieg des Vereines verarbeitet werden muss. Doch für jeden Fußballfan, auch für die des 1. FC Saarbrücken, gibt es Möglichkeiten, das Leiden zu kompensieren. Man kann sich ins Stadion stellen, nach Gegentoren fluchen und dann wie ein Wahnsinniger wieder seine Mannschaft anfeuern. („Heja, heja FCK!“, „Kämpfen, Lautern, kämpfen!“, „Kai-serslau-tern!“) Zuweilen entlädt sich der unerträgliche Leidensdruck in unsagbaren Jubelorgien, wenn doch noch das rettende Tor gefallen, der todbringende Elfmeter gehalten, der Abstieg vermieden wurde. Nirgendwo lässt sich der Spruch „Totgesagte leben länger“ besser