Ein kleiner Lichtblick in den trägen Sommerwochen des Fußball-Entzugs waren meine regelmäßigen Anrufe beim Sportinformationsdienst. Nur hier kam man zeitnah an die Ergebnisse der Intertoto-Runde, die nach Trainingsauftakt das Erste waren, was einem Orientierung über den Leistungsstand des eigenen Teams liefern konnte. Die Intertoto-Runde war eine Art UI-Cup in bedeutungslos. Bestimmt würde heute jedes zweite Spiel davon live im DSF übertragen und von eigens eingeflogenen Experten analysiert werden. Damals wurden weder Experten um ihre Meinung gebeten, noch gab es Fernsehsender, die ihre Daseinsberechtigung darin sahen, unbedeutende Vorbereitungsspiele mittelmäßiger Mannschaften zu übertragen. Ein bisschen fühlte ich mich während der Saisonvorbereitung wie Sportreporter Bruno Moravetz bei den Olympischen Winterspielen 1980 in Lake Placid. Genau wie für ihn damals Behle von der Bildfläche verschwunden war, vermisste ich in den Sommerferien meinen 1. FC Kaiserslautern, der sich unter flirrender Hitze anscheinend in Luft aufgelöst hatte. Nicht auszudenken, was ich ohne Telefon getan hätte … Schön, von einer neutralen Bandstimme zu hören, dass mein 1. FCK gegen Servette Genf ein 1:1 geholt hat – unschön, nicht zu wissen, wer der Torschütze war. Vielleicht würde man es am nächsten oder übernächsten Tag in der Zeitung erwähnt finden.
Irgendwann war es dann endlich so weit: Der Jahreskicker für die neue Saison erschien. Wie ein Junkie schlurfte ich über heißen Teer zum Supermarkt, um mir für sechs Mark das herrlich dicke Hochglanzheft zu kaufen. Zu Hause machte ich es mir im Schatten wunderbar bequem und bemühte mich redlich, den Artikel über den 1. FC Kaiserslautern nicht als Erstes zu verschlingen. Stattdessen fing ich – wie normale Leser – auf den vorderen Seiten an, doch viel zu schnell hatten sich meine Finger durch das Dickicht gewühlt und die verbotenen Blätter aufgeschlagen. In der Regel las ich den Artikel über meinen Verein etwa zehn- bis zwanzigmal. Es ist für mich deshalb auch überhaupt keine Leistung zu behaupten, die Kicker-Schlagzeile vor der nun anstehenden Saison 1988/89 sei „Stabel stärkt die Stabilität“ gewesen, denn sie war es, genau wie es ein Jahr zuvor „Nagelprobe für den Nachwuchs“ und ein Jahr danach „Ein Rucksack für Roggensack“ waren.
Heute erfüllt es mich mit Schrecken, wie viele kostbare Jugendstunden ich mit glasigen Augen auf Mannschaftsfotos gestarrt habe. Was hätte ich nicht alles in der Zeit erleben können, in der ich genüsslich die neuen Trikots, die neuen Trainer, die neuen Spieler, deren vorherige Stationen, Geburtsorte und Körpermaße verschlang? Was wäre ich für ein stabiler und souveräner Mensch geworden, wenn ich nicht immer wieder in höchste Siege, höchste Niederlagen, meiste Spiele, meiste Tore, ewige Tabellen und Spielpläne abgetaucht wäre? Heimlich gebe ich dem Fußball die Schuld an meiner bis heute recht inaktiven Lebensweise. Heimlich glaube ich sogar, ohne Fußball bereits Nobelpreisträger, Olympiasieger oder wenigstens reich zu sein. Das Zeug dazu zu besitzen, bilde ich mir schon immer ein, aber wenn ich ehrlich bin, entspricht diese irrationale Einschätzung der eigenen Person genau dem Charakter des an Zahlen und Ereignisse gebundenen Fußballtheoretikers. Meine Welt ist es zu wissen, dass ich während des 6:0-Auswärtssieges des 1. FCK in Saarbrücken am Ende der Saison 1985/86 das Auto meines Vaters gewaschen habe. Interessiert das jemanden? Interessiert es irgendwen, dass ich weiß, dass Andy Brehme ursprünglich Kfz-Mechaniker war, Ronnie Hellström 1968 das Abitur bestanden und Klaus Toppmöller das letzte seiner 108 Tore für den FCK am 8. September 1979 gegen Schalke geschossen hat? Lässt sich jemand davon beeindrucken, dass ich ohne zu überlegen die bisherigen FCK-Trikotwerbungen in der chronologischen Abfolge aufzählen kann? (Für diejenigen, die sie zu kennen glauben, als Bestätigung: Campari, Streif, Portas, Karlsberg, Trigema, Oki, Crunchips, Deutsche Vermögensberatung.) Denkt jemand gerade an die Trainer nach Feldkamps erster Amtsperiode? (Wer es tut, lasse sich sagen: Kröner, Weise, Krafft, Bongartz, Stabel, Roggensack, Feldkamp, Zobel, Rausch, Krautzun, Rehhagel, Brehme, Gerets, Jara, Henke, Wolf, Rekdal, Sasic – von den Interimstrainern ganz zu schweigen.) Die erschütternde Wahrheit ist, dass erhebliche Bestandteile meines Lebens aus Spielen, Ergebnissen und rot-weißen Fahnen bestehen und niemand, aber auch wirklich niemand aus der normalen Welt auch nur ansatzweise die Tragweite meines durch Fußball blockierten Verstandes zu erfassen vermag. Obwohl ich schon immer lieber auf der Couch gelegen habe, als etwas zu leisten, kann ich mich verstellen und während der passiven Phasen gewöhnlicher Alltagskommunikation so tun, als würde ich zuhören. Das Kicker-Abonnement, das mir mein Vater Ende der achtziger Jahre zu Weihnachten schenkte, gab mir die Möglichkeit, zumindest zweimal pro Woche meinen Trieben auf gesellschaftlich akzeptierte Weise nachzugehen. „Lesen bildet“, glaubt man gemeinhin – dass ich das christliche Lektüregeschenk meines Taufpaten nicht anrührte, war da nur ein Schönheitsfehler.
Vor dem ersten Spieltag der Saison 1988/89 tauchte Franco Foda als Studiogast in der Mittwochsziehung der Lottozahlen auf. Für mich geschah dieses Ereignis völlig überraschend. Es versetzte mich drei Tage vor Saisonbeginn in die Stimmung, die ein wohlgelaunter Fanblock 15 Minuten vor Anpfiff eines wichtigen Spiels versprüht. Ich fieberte dem Saisonstart entgegen, der samstagsmittags dann sogar in einer 1:0-Führung auf dem Gladbacher Bökelberg gipfelte. Was danach kam, war das „Karriereende“ des Sergio Allievi. Zwar spielte er hinterher noch mehrere Jahre im Profifußball, bis zum Sommer 1990 beim 1. FCK und später u.a. bei Dynamo Dresden, doch Torgefahr sollte dieser schnelle Stürmer nur noch selten ausstrahlen. Sein Selbstvertrauen hatte er im Juli 1988 auf dem siedend heißen Gladbacher Bökelberg gelassen, wo es ihm aus fünf Metern Entfernung nicht gelungen war, das leere gegnerische Tor zu treffen. Tragisch, dass statt einer 2:0-Führung und zwei goldenen Auswärtspunkten am Ende eine 1:4-Niederlage zu Buche stand.
Es sind die wahrhaft bitteren Momente im Leben eines Fans, wenn der Überraschungssieg so greifbar scheint und dann doch nur das Lamentieren über vergebene Chancen oder fragwürdige Schiedsrichterentscheidungen bleibt. Natürlich kann es einem mit Abstand auch für Sergio Allievi leid tun, der vor allem in seinem ersten Lautern-Jahr mit tollen Dribblings und spektakulären Toren aufhorchen ließ. Doch im entscheidenden Moment denkt ein Fan nicht an den armen Spieler, der die Chance vergeben hat, sondern an den charakterlosen Raffzahn, der unfähig ist, das zu tun, wofür er gekauft wurde, nämlich Tore zu schießen. Allievi habe ich persönlich als sympathischen Sportler in Erinnerung, aber zu viel mehr hat es in der Endabrechnung bei ihm dann doch nicht gereicht.
Komisch, dass es oft einzelne, kleine Geschehnisse sind, die ein Leben so oder so laufen lassen. Gehe ich einmal nach links statt nach rechts, falle ich einem Amokschützen zum Opfer oder begegne der großen Liebe. Besonders grotesk die Tatsache, dass Menschen, die Jahre, mitunter Jahrzehnte ihre Funktionen tadellos erfüllt haben, sich durch eine einzige Unbeherrschtheit ins Abseits manövrieren können. Auf einmal ist der honorige Bürger kriminell geworden und der Minister zur Witzfigur. Der Torjäger haut den Ball in die Wolken und weiß irgendwann nicht einmal mehr, wie er seine Schnürsenkel binden soll. Das Leben ist ein Fußballspiel, und am besten kommen diejenigen hindurch, die in den entscheidenden Momenten das Gehirn ausschalten. Sergio Allievi hat seines angelassen.
Die Niederlage in Gladbach ließ mich so schnell nicht los. Wir waren gut, wir waren besser als erwartet, und doch hatten wir verloren. Abstand gewann ich dadurch, dass ich begann, kurze analysierende Spielberichte zu verfassen. Ich schrieb sie in mein ursprünglich dem Skisport gewidmetes Album mit dem Titel „Skispringer Finnlands und anderer Länder“. Die komplette Saison 1988/89 dokumentierte ich auf diese Weise und nährte dadurch wie auch durch meine nun regelmäßige Kicker-Lektüre mein Hirngespinst, einmal als Sportjournalist zu arbeiten. Wenn ich mir die heutige Medienlandschaft insbesondere in der Sportberichterstattung anschaue, bin ich allerdings froh, es nicht geworden zu sein. Was haben sie bloß aus unserem Fußball gemacht? Klar ist es ein Geschäft, und logisch braucht ein Geschäft Öffentlichkeit – wie sonst wäre ich wohl zum Fan geworden? Aber die Medienwelt verfolgt zu selten noch ihren Bildungsauftrag, dem ein plaudernder Harry Valerien trotz des vermeintlich einfachen Gesprächsthemas „Sport“ noch gerecht wurde. Heutige Fernsehjournalisten sind sich zu sehr der Tatsache bewusst, wie viele Fußballsüchtige es in unserer Gesellschaft gibt. Und statt diese Süchtigen zu therapieren oder ihnen zumindest einmal im Jahr eine achtwöchige Sommerpausen-Entgiftung zu gönnen, liefert die Medienmaschinerie ihnen rund um