Das Leben ist ein Fußballspiel. Bjorn B. Schmidt. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Bjorn B. Schmidt
Издательство: Bookwire
Серия: Werkstatt Fanbuch
Жанр произведения: Сделай Сам
Год издания: 0
isbn: 9783895336614
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zu nehmen. („Der FCK! Der FCK! Der FCK ist wieder da! Der FCK ist wieder daahaa! Der FCK ist wieder da!“ Oder, ebenfalls zur Melodie von „Oh when the Saints“ beim 5:0 über Nürnberg im Frühjahr 2003: „Wir bleiben drin! Wir bleiben drin! Wir bleiben drin und ihr steigt ab! Wir bleiben drin und ihr steigt aaahaab! Wir bleiben drin und ihr steigt ab!“) Das sind nicht mehr erwartete Triumphe. Laute, lustvolle, lebensbejahende Lieder leidgeprüfter Leute. Es sind die Momente, die das Fandasein lebenswert machen und die für den ganzen Grottenmist, den sich ein Verein wie der 1. FC Kaiserslautern im Laufe einer Saison zusammenspielen kann, entschädigen.

      Diese Momente kennt ein Fan des FC Bayern München nicht. Jeder Fußballinteressierte in Deutschland weiß, dass der FC Bayern München die stärkste Fußballmannschaft unterhält. Jeder Fan weiß, dass Bayern das meiste Geld hat – ohne Zweifel ein Ergebnis der Arbeit professioneller Verantwortungsträger –, und jeder hält es Jahr für Jahr für äußerst wahrscheinlich, dass der FC Bayern München wieder die Meisterschale erringen wird. Trotz all dieser Gewissheiten gibt es Menschen, die es mit Glückseligkeit erfüllt, wenn die Titel wieder an die Säbener Straße gewandert sind. Der Normalbürger nimmt es hin, wie er das planmäßige Einlaufen eines Zuges in den Bahnhof hinnehmen würde – der Bayern-Fan dagegen ertrinkt in Freudentränen. Es soll sogar Radioreporter geben, die beim Heimspiel der Bayern gegen den Tabellenletzten dermaßen enthusiastisch „Tor in München“ ins Mikrophon brüllen, dass nur der freche Außenseiter in Führung gegangen sein kann – gemeint war aber ein Bayern-Tor. Woher kommt dieser Bayern-Virus? Warum freuen sich Menschen über das Erwartungsgemäße auf die gleiche Art, wie ein Underdog-Fanatiker sich über den Aufstieg seiner Mannschaft freut? Ist es überhaupt die gleiche Art?

      Was mich, seit ich kein kleines Kind mehr bin, überkommt, wenn ich von einem Mitmenschen erfahre, dass er Bayern-Fan ist, ist eine grenzenlose Portion Mitleid. Vielleicht übertreibe ich noch nicht einmal, wenn ich ein solches Outing in seiner Schwere mit Bekenntnissen wie „Ich habe meinen Penis verlängern lassen“, „Ich bin Hobbyjäger“ oder „Ich mag Michael Schumacher“ vergleiche. Das Kuriose daran ist, dass es manchmal sogar nette, intelligente Gesprächspartner betrifft, die sich, wenn das Thema Fußball angeschnitten wird, auf einmal auf so eklatante Art und Weise als emotionale Volltrottel zu erkennen geben. Dabei hat ein Bayern-Fan intellektuell gesehen natürlich die absolut richtige Entscheidung getroffen. Wer zu Bayern hält, hat statistisch die meisten Erfolgserlebnisse und am wenigsten Grund, zerknirscht durchs Leben zu gehen. Aus der Bahn werfen können ihn nur Vizemeisterschaften (wenn der Rest der Liga lacht) und in letzter Sekunde vergeigte Champions-League-Finals (wenn der Rest der Republik so tut, als leide er mit). Aber in der Regel darf der Bayern-Fan laut jubeln und genüsslich in seine Weißwurst beißen. Die Frage ist nur: Wenn ich mir mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit Misserfolge ersparen will, warum werde ich dann überhaupt Fußballfan? Warum glaube ich, der Verein, der sowieso immer und alles gewinnt, sei auf mein Geklatsche und Gejohle angewiesen? Und warum habe ich es nötig, mich mit den Orden der erfolgreichsten Fußballer des Landes zu behängen? Komplexe gibt es natürlich überall, und gewiss ist nicht nur die Bayern-Kurve ein Ort, in der man diese besonders gut ausleben kann. Aber mit ein bisschen mehr erzieherischem Einfühlungsvermögen in der frühen Kindheit hätte man manch einen, der sich heute mit Uli Hoeneß freut, durchaus vor diesem traurigen Schicksal bewahren können.

      Im März 1989 schossen weder die Bayern noch mein 1. FCK ein weiteres Tor. Das 1:1, ein Spiel, bei dem wir ausnahmsweise weiße Hosen zu den roten Trikots getragen hatten, konnte man summa summarum als Achtungserfolg werten. Bei meinen Freunden, die selbstverständlich mit einem klaren Bayern-Sieg gerechnet hatten, hielt sich die Enttäuschung ebenfalls in Grenzen, denn die Münchner steuerten souverän der Deutschen Meisterschaft entgegen. Am Ende der Spielzeit sollte es durch einen niveauarme Provokationen proklamierenden Kölner Trainer zwar noch einmal interessant werden, doch auch die hitzigste aller ZDF-Sportstudio-Diskussionen mit Bernd Heller, Uli Hoeneß, Jupp Heynckes, Udo Lattek und Christoph Daum („Jede Schlaftablette ist spannender als ein Gespräch mit Jupp Heynckes“) vermochte die Wende im Titel-Zweikampf nicht mehr herbeizuführen.

      Nach dem Spiel war mir endgültig klar, dass der FCK mit mir in seiner Nähe nicht mehr verlieren würde. Mit dieser fast religiöse Dimensionen annehmenden Gewissheit trat ich den Rückweg an und kam gerade rechtzeitig zur Taufe meines Neffen, bei der ich unter einer schwarzen Stoffjacke verborgen mein FCK-Trikot trug. Dass der Täufling es heute mit Borussia Dortmund hält, konnte mein listiger Versuch der unterschwelligen Einflussnahme leider nicht verhindern. Ohne ihm zu nahe treten zu wollen, kann ich meinen Neffen aber auch nicht als Fan bezeichnen. Zumindest nicht als richtigen, denn seine Art der Vereinstreue geht kaum über die eines Sympathisanten heraus und erreicht eindeutig nicht das pathologische Niveau, auf dem ich mich zuweilen bewege. An anderer Stelle sagte ich bereits, dass ich Menschen beneide, deren Gefühle den Fußball betreffend sich im gesunden Rahmen halten, und die Gelassenheit meines Neffen gehört in diesem Zusammenhang ganz sicher zu den hervorzuhebenden Charakterzügen. Ob seine Persönlichkeit dafür in anderen Aspekten Schwächen aufweist, vermag ich weder zu bestätigen noch zu dementieren – glauben will ich es jedenfalls nicht.

      Die Intervalle wurden kürzer. Beim nächsten Heimspiel war ich schon wieder da. Diesmal mit meinem Vater und zwei Jungen aus der Nachbarschaft. Es muss der 1. April 1989 gewesen sein, als wir, wohl auch begünstigt durch die peinliche 0:2-Auswärtsniederlage bei den Stuttgarter Kickers, ohne Angst, vor verschlossenen Stadiontoren zu landen, den Weg nach Kaiserslautern antraten. In der Tat sollte das Spiel gegen den FC St. Pauli vor der geringsten Zuschauerzahl stattfinden, die ich bis heute bei einem Erstligaspiel auf dem Betzenberg erlebt habe. Nicht einmal 17.000 Menschen säumten die Ränge. Wir standen in Block 6, was mich angenehm überraschte, da ich von meinem Vater nicht erwartet hätte, dass er sich für die Westkurve hergeben würde. (Wahrscheinlich wollte er mit seiner Platzwahl Rücksicht auf die Geldbörsen seiner jugendlichen Mitfahrer nehmen, aber rein wirtschaftlich betrachtet hätte es dann auch die Osttribüne getan.)

      Das Spiel war, wie man in der allgemein gebräuchlichen Reportersprache zu sagen pflegt, richtungsweisend, denn der Abstand zu den Abstiegsrängen war bedrohlich zusammengeschrumpft. Inzwischen war klar, dass Trainer Sepp Stabel in der kommenden Saison für Gerd Roggensack weichen musste, und manch einer befürchtete durch diese frühe Festlegung einen Einbruch.

      Für einen der beiden Nachbarsjungen, Morten Pitz, war es der Tag der Stadionpremiere. Ich weiß nicht, ob er sich vorher ernsthaft für Fußball interessiert hatte. Morten war ein eher unsteter Zeitgenosse, ein mäßig sportlicher dünner Hering, der im kommenden Jahr seinen Hauptschulabschluss machen wollte. Im Allgemeinen unternahm ich mit ihm und ein paar anderen Freunden Fahrradtouren, mit Vorliebe durch den in unserer Gegend dicht wachsenden Wald. Oft fuhren wir zu einer einsamen Eisenbahnbrücke, in deren Unterbau wir es uns gefährlich gemütlich machten und erste, heimliche Biere tranken, während die Regionalzüge mit lautem Getöse über unsere Köpfe hinwegdonnerten. Morten war ein Mensch, dessen Begeisterung für eine Idee analog zum Grad ihrer Verrücktheit zunahm. Im Gegensatz zu Jonas Gutmann, der als realitätsbezogener Zauderer immer das Hätte, Wenn und Aber parat hatte – Jonas war Bayern-Fan. Trotzdem ließ er sich einmal nach langem Sträuben von Morten (dem offiziellen Anstifter) und mir (dem unentdeckten Ideengeber) dazu überreden, sich mit uns gemeinsam im Wald aller Kleider zu entledigen und einen guten Kilometer nackt auf dem Fahrrad zurückzulegen. Jonas ängstliche Frage, was wir tun würden, wenn uns jemand entgegenkäme, konterten wir mit der Antwort „freundlich grüßen und weiterfahren“. Wir begeisterten uns für das Absurde, für die Konfrontation der normalen Menschen mit dem Unnormalen. Ohne Zweifel hatte Morten Potenzial für die Westkurve. Sie war in seinen Augen das „etwas Andere“, das ihm in seiner jugendlichen Existenzkrise Orientierung verlieh. Am 1. April 1989 verliebte sich Morten zwar nicht in den Fußball, doch er entdeckte seine Leidenschaft für die Betzenberg-Atmosphäre und verschrieb seine Seele für die nächsten zwei Jahre dem Teufel persönlich: Gerry Ehrmann.

      Die eigenartige Stimmung beim St.-Pauli-Spiel habe ich besser und eindrucksvoller in Erinnerung als den Lärm, den die mehr als doppelt so vielen Menschen 14 Tage zuvor gegen die Bayern veranstaltet hatten. Diese Erfahrung war, wie mir mein späteres Fanleben zeigte, nicht ungewöhnlich. Die Frage, ob eine Masse explodierte, hing weniger von deren Größe ab als vielmehr von den äußeren Umständen