»Ich glaube, ich habe nun meinen Weg gefunden«, informierte sie Julie und Alastair mit einem Strahlen im Gesicht. »Danke noch mal für die schönen Karten, die du mir geschenkt hast, Alastair!«
Er lächelte väterlich und warf Julie einen Ich-hab’s-dir-doch-gesagt-Blick zu. Versorgte er jetzt die ganze Welt mit Tarotkarten?
»Ich habe das Gefühl, die Bilder sprechen zu mir auf eine Weise, die ich vorher noch nie erlebt habe. Ach, Alastair, du bist einfach der Beste!« Überschwänglich umarmte Cassandra ihn. »Ich glaube, das Kartenlegen ist genau mein Ding.«
Alastair zuckte zusammen, fing sich aber schnell wieder. »Es war nichts als ein kleiner Schubs in die richtige Richtung«, wehrte er ab.
Kurz danach trudelten auch die anderen Mitglieder des Hexenzirkels ein. Jolene mit dem orangerot gefärbten Haar huschte schnell ins Hinterzimmer. Heute war also einer ihrer schweigsamen Tage. Julie wusste nicht viel über sie; Jolene sprach nur selten über sich und ihre Vergangenheit. Julie hatte jedoch herausgefunden, dass sie ihren Namen hasste wegen des gleichnamigen Dolly-Parton-Songs und dass ihre Passion Liebeszauber waren. Viele ihrer Kunden wunderten sich, weil die Zauber so unerhört günstig waren. Doch Alastair hatte Julie irgendwann verraten, dass Jolenes Haupteinnahmequelle darin bestand, den Zauber wieder zu lösen. Viel zu schnell wurden die jungen Leute heutzutage ihrer großen Liebe überdrüssig, hatte er gemeint. Dann wollten sie die früher Angebeteten wieder loswerden.
Etwas später kam Red, der sich auf Elemente spezialisiert hatte. Im Hauptberuf war er Feuerwehrmann. Jedes Mal, wenn Julie ihn sah, musste sie an Serienbrandstifter denken, die oft eine berufliche Laufbahn in der Brandbekämpfung einschlugen und Feuer löschten, die sie selbst gelegt hatten. Red war ihr ein wenig unheimlich, da er sie immer anstarrte, bevor er mit den anderen im Hinterzimmer verschwand. Allerdings hatte er sie niemals auch nur im Ansatz belästigt.
Trotzdem war ihr die kleine, rundliche Myrtle lieber. Die grauhaarige ältere Dame war nach Alastair die erfahrenste Hexe im Zirkel und beherrschte angeblich die Kunst der Wahrsagerei und des Totenbeschwörens. Der Gedanke, dass sie sich nachts auf dem Friedhof herumtrieb, jagte Julie jedes Mal Schauer über den Rücken. Das passte ihrer Meinung nach so gar nicht zu der harmlos aussehenden Teetrinkerin.
Margaret war die Letzte, die eintraf. Julie mochte sie, denn sie schien sich und ihre vermeintlichen Fähigkeiten nie allzu ernst zu nehmen und lachte oft und gerne. Anders als ihre Hexenschwestern und -brüder schien sie keine besondere Vorliebe für einen speziellen Zweig der Magie zu haben. Als Julie ihre ersten zögerlichen Schritte als Inhaberin des Itchy Witchy getan hatte, war es Margaret gewesen, die ihr Hilfe beim Sichten des Inventars und während der anstrengenden Wochen nach der Wiedereröffnung angeboten hatte. Alle anderen Hexen, auch Alastair, waren zwar regelmäßig vorbeigekommen und hatten ihre Utensilien bei Julie gekauft, statt sie im Internet zu bestellen, aber Margaret hatte ihr bei diesen Gelegenheiten als Einzige auch mal einen Kaffee mitgebracht.
Als alle Mitglieder des Hexenzirkels im Hinterzimmer verschwunden waren, kehrte Julie zu ihrer Arbeit zurück. Doch nachdem sie eine Lücke im Bücherregal aufgefüllt und ein neues Paket Tarotkarten auf den Tisch mit den Wahrsageutensilien gelegt hatte, gab es eigentlich nicht mehr wirklich etwas zu tun. Gerade wollte sie es sich wieder hinter dem Verkaufstresen gemütlich machen und nach ihrer Romanze greifen, da fiel ihr Blick auf die Karten, die Alastair liegen gelassen hatte. Sie durfte nicht vergessen, sie ihm später zu geben. Also legte sie sie in Griffweite neben die Kasse. Sie würde sie auf gar keinen Fall annehmen, egal wie sehr er darauf beharrte.
Dann versuchte sie zu lesen, doch die Karten ließen ihr keine Ruhe. Immer wieder schaute sie zu der bunten Papierhülle hinüber. Diese zeigte die erste Karte der großen Arkana, den Narren. Bereits zum zweiten Mal an diesem Tag fesselte er Julies Aufmerksamkeit.
Sie nahm das Paket in die Hand und betrachtete die Abbildung genauer. Der junge Mann blickte in den Himmel und hatte einen Stock geschultert, an dem ein Bündel mit seinen Habseligkeiten befestigt war. Er sah sorgenvoll aus, aber warum? Er war frei und konnte gehen, wohin er wollte. Julie schüttelte kurz den Kopf über sich selbst. Sie würde doch wohl nicht anfangen, sich mit Tarot zu beschäftigen?
Entschlossen legte sie das Paket beiseite und wandte sich wieder ihrem Roman zu. Doch nachdem sie eine halbe Seite über den kunstvoll küssenden Lord gelesen hatte, schaute sie erneut auf die Karten.
Ach, was soll’s, dachte sie. Was kann schon passieren?
Ihre Tante Laurie hatte immer gesagt, dass Wahrsagekarten, anders als viele magische Rituale, wenigstens keinen direkten Schaden anrichten konnten. In den Händen von Menschen, die wie Julie keinen Schimmer von Hexenkräften hatten, dienten sie einzig der Selbsterkenntnis. Man sah nur das, was einem wichtig war, hatte Tante Laurie erklärt. Ein Mann, der sich nach Geld verzehrte, würde in jeder Karte materiellen Gewinn oder Verlust entdecken. Ein Verliebter sah den Ausgang einer Liebesaffäre, und eine Frau, die sich nach Freiheit sehnte, einen Käfig oder die Möglichkeit, dem Gefängnis zu entkommen.
Julie runzelte die Stirn. Was also hatte sie bewogen, den Narren für ein Sinnbild der Ungebundenheit zu halten?
Schluss mit der ewigen Selbstanalyse! Sie hatte genug davon für drei Leben betrieben. Wann hatte sie das letzte Mal spontan reagiert oder eine Entscheidung aus dem Bauch heraus getroffen? Sie konnte sich nicht daran erinnern.
Entschlossen legte sie die Karten wieder zurück und vertiefte sich in ihr Buch. Erst als sich die Tür zum Hinterzimmer öffnete und die Hexen nacheinander heraustraten, bemerkte sie, wie viel Zeit vergangen war. Draußen war es bereits dunkel, und ihr Nacken schmerzte von der gebeugten Haltung. Aber immerhin wusste sie nun, dass der gut gebaute englische Adelige nicht nur im House of Lords, sondern auch in der Liebe eine herausragende Leistung erbrachte. Und mehr als einen fiktiven Liebhaber brauchte sie im Augenblick nicht. In einer Kleinstadt wie Yarnville waren gut aussehende Junggesellen Mangelware und wurden heiß umkämpft. Da war ihr die Fantasie eindeutig lieber, als sich Rob, dem Versicherungsvertreter, oder Tim, dem Lehrer, anzubieten.
Die meisten Mitglieder des Hexenzirkels verließen den Laden. Julie legte das Buch zur Seite, um die Tür zu schließen, die Cassandra wie immer offen gelassen hatte. Dann kehrte sie zum Tresen zurück, nahm das Päckchen Karten und sah zu Alastair, der gerade den Mantelkragen hochschlug und ihr zum Abschied freundlich zunickte.
»Du hast da was vergessen«, sagte sie entschlossen und hielt ihm die Tarotkarten entgegen.
Doch Alastair schüttelte den Kopf. »Oh nein, habe ich nicht. Die sind für dich, meine Liebe.«
»Auf gar keinen Fall«, wehrte Julie ab. »Habe ich dir nicht vorhin noch erzählt, was Granny gesagt hat?« Schlagartig kehrte ihre Erinnerung zurück.
»Du bist völlig aus der Art geschlagen«, hatte die alte Frau seufzend gesagt und Julie dabei vorwurfsvoll angesehen. »Ich verstehe das nicht. Deine Mutter war die mächtigste Hexe unserer Familie seit vier Generationen.«
Das hat sie auch nicht davor bewahrt, bei einem Autounfall zu sterben, hatte Julie später oft gedacht. Zuerst war sie traurig gewesen, dass sie nicht einmal ein kleines bisschen der Macht geerbt hatte, über die ihre Mutter angeblich so reichlich verfügt hatte. Aber spätestens, als sie langsam erwachsen geworden war, war sie dankbar gewesen für ihre Normalität. In Gesellschaft einer Tante und einer Großmutter aufzuwachsen, die allgemein als exzentrisch galten, war nicht gerade ein Zuckerschlecken gewesen.
Alastair holte sie wieder in die Gegenwart zurück. »Du solltest es einfach ausprobieren. Ich kann mir nicht vorstellen, dass du die Einzige in der Familie bist, die keinerlei magische Begabung hat.«
»Alastair …«, begann Julie, doch er unterbrach sie.
»Versuch es wenigstens einmal, Julie! Bitte. Ich habe das Gefühl, dass sehr viel mehr in dir steckt, als du vermutest. Es kann nicht leicht gewesen sein, mit zwei so starken Hexen wie deiner Großmutter und deiner Tante aufzuwachsen. Trotzdem solltest du dich nicht unterschätzen.«
Julie schüttelte den Kopf. In all den