Nach der vierten Tasse Tee wagte sie es endlich, Cassandra nach Hause zu schicken. Zu diesem Zeitpunkt strömten aber bereits massenweise kaufwillige Touristen ins Itchy Witchy und Julie hatte keine Gelegenheit mehr, Red telefonisch zu erreichen. Um die Mittagszeit, als es ruhiger wurde, war sie fix und fertig. Sie brauchte unbedingt jemanden, der ab und zu im Laden aushalf, aber für heute war es genug. Sie begleitete die letzte Kundin, die sich nach langem Hin und Her für ein Buch über Traumdeutung entschieden hatte, zur Tür und drehte das »Geschlossen«-Schild nach außen. Um ein wenig abzuschalten, wischte sie Staub, sortierte falsch eingeräumte Bücher um und genoss die Stille.
Myrtle war schließlich die Erste, die sich von dem Schild nicht abhalten ließ und an die Fensterscheibe klopfte. »Wie schön, dass du den Laden im Gedenken an Jolene geschlossen lässt«, lobte sie, nachdem Julie ihr die Tür geöffnet hatte.
Sie bat sie herein und hoffte, nicht allzu ertappt auszusehen. Myrtle hatte ihre Beweggründe völlig falsch gedeutet.
In der nächsten Stunde kamen auch Red und Margaret ins Itchy Witchy. Sie wirkten irgendwie verloren und suchten Trost, den Julie bereitwillig spendete. Es tat ihr unerwartet gut, über Jolene zu sprechen, auch wenn die Geschichten über deren Rolle im Hexenzirkel an ihren Nerven zerrten. Jolene hatte sie oft an ihre »Hexenpflicht« erinnert, doch sie hatte nie vergessen zu sagen, dass sich am Ende alles fügen würde.
»Du brauchst wahrscheinlich noch ein bisschen Zeit, das ist alles. Irgendwann wirst du erkennen, was du wirklich willst«, hatte sie prophezeit.
Natürlich war sie wie alle anderen fest davon überzeugt gewesen, dass sie genau wusste, was Julie wollte und brauchte, das war Julie klar. Auch ihre Tante hatte das geglaubt und gemeint, dass Julies Platz in Yarnville war. Und hatte sie selbst nicht heute Morgen noch überlegt, ob Laurie vielleicht sogar recht gehabt hatte?
Der Gedanke an ihre Tante rief ihr das Ding ins Gedächtnis zurück, das noch immer in ihrer Tasche lag. Doch in der jetzigen Situation wagte sie es nicht, Myrtle darauf anzusprechen. Die Nekromantin wanderte wie eine verlorene Seele von Regal zu Regal, nahm mal diesen, mal jenen Gegenstand in die Hand, schien ihre Umgebung allerdings kaum wahrzunehmen. Überhaupt war sie ungewöhnlich schweigsam.
Red dagegen war für seine Verhältnisse recht gesprächig und schilderte den Anblick der verkohlten, zusammengekrümmten Leiche so oft, dass Julie ihn schließlich bitten musste, damit aufzuhören. Dummerweise war er, was die ersehnten Fakten anging, nicht annähernd so auskunftsfreudig.
»Tut mir leid«, sagte er, »das darf ich dir nicht sagen. Solange die Polizei ermittelt, müssen wir von der Feuerwehr uns bedeckt halten.«
Julie hatte das Bedürfnis, ihn zu schütteln oder anzuflehen, doch sie riss sich zusammen und begnügte sich mit einem verständnisvollen Blick.
Schließlich war es Margaret, die die Sorgen aller auf den Punkt brachte: »Was ist, wenn jemand Jagd auf uns macht?«, fragte sie mit leiser Stimme.
»Aber Margaret«, wandte Julie ein, die langsam die Geduld verlor. »Wer sollte denn etwas gegen euch haben? Ihr schadet doch niemandem mit euren Zaubereien. Sag mir lieber, wo Alastair ist! Ich versuche schon den ganzen Tag vergeblich, ihn zu erreichen.«
Margaret sah sie unbehaglich an. »Ich habe keine Ahnung. Glaubst du, ihm könnte ebenfalls etwas zugestoßen sein?«
Im Stillen verfluchte Julie ihre Worte. »Nein«, sagte sie. »Ich möchte nur nicht, dass er von Jolenes Tod durch einen Fremden erfährt. Einer von uns sollte es ihm sagen, nicht die Polizei.«
»Du hast recht«, stimmte Margaret zu. »Aber um noch einmal auf das eigentliche Thema zurückzukommen: Hexerei ist kein Kinderkram, auch wenn du uns nicht ernst nimmst. Und ausgerechnet du solltest es besser wissen.« Bevor Julie etwas darauf erwidern konnte, fuhr Margaret fort: »Vergiss nicht – Salem ist nur knapp vierzig Meilen von hier entfernt! So wie es Hexen gibt, existieren auch noch die Hexenjäger, meine Liebe. Ich kann es in den Knochen spüren – Jolene war die Erste, die den Tod in der Flammenhölle fand. Aber sie wird nicht die Letzte sein.«
War Margaret jetzt völlig verrückt geworden? Irgendwo lief ein Mörder frei herum und sie hatte nichts Besseres zu tun, als jahrhundertealte Ereignisse aufzuwärmen.
»Jetzt beruhige dich doch!«, entgegnete Julie. »Wenn du Angst hast, solltest du die Polizei informieren. Ich sage ja nicht, dass deine Befürchtungen unbegründet sind. Wer weiß schon, welche Verrückten sich dort draußen herumtreiben? Ich kenne Chief Parsons nur vom Sehen, aber er macht auf mich einen besonnenen und vernünftigen Eindruck. Sprich mit ihm, bitte ihn um Polizeischutz!«
»Das will ich nicht«, wehrte Margaret ab. Sie wirkte völlig verängstigt.
Julie fragte sich, wo die entspannte, freundliche Hexe geblieben war, die sie kannte.
»Die Polizei kann da auch nichts tun.« Margaret verstummte plötzlich und starrte auf einen Punkt hinter Julies Kopf. »Nein, Chief Parsons ist nicht der richtige Mann für so etwas«, sagte sie schließlich. »Aber … Danke, Julie!« Damit verließ sie das Itchy Witchy.
Ziemlich verblüfft blieb Julie zurück. Kurz darauf verabschiedeten sich auch Red und Myrtle. Julie wollte den Laden gerade wieder schließen, als eine sichtlich gestresste Mutter mit zwei kichernden Töchtern hereinkam.
»Sie haben doch geöffnet, oder?«, fragte sie unsicher und deutete auf das Schild.
»Aber ja«, antwortete Julie und unterdrückte einen Anflug von schlechtem Gewissen, als ihr Myrtles lobende Worte einfielen.
Doch von einem geschlossenen Laden wurde Jolene auch nicht wieder lebendig, und Julie war darauf angewiesen, ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Jetzt, mitten in der Touristensaison, auf das Geschäft zu verzichten, war einfach nicht möglich. Für den Rest des Tages blieb das Itchy Witchy geöffnet.
KAPITEL 6
Zehn der Schwerter
»Verdammt, Alastair, ruf mich an! Ich mache mir Sorgen um dich.«
Es war das Ende eines langen Tages, an dem Julie dutzendmal versucht hatte, ihren Freund zu erreichen. Als sie das Itchy Witchy endlich schließen wollte, kam Chief Parsons herein. Misstrauisch schaute er sich um, bevor er sie fragte, wo sie die letzte Nacht gewesen war.
»Zu Hause, in meinem Bett. Wo sonst?«, war ihre verblüffte Antwort. »Werde ich etwa verdächtigt?«
Er zuckte die Achseln. »Wir ermitteln in alle Richtungen«, brummte er, während er geistesabwesend mit einem der Voodoopüppchen spielte.
Diese verflixten Dinger fingen an, Julie auf die Nerven zu gehen. Jeder schien sie anfassen zu wollen. Sie war nur froh, dass keines von ihnen aus weißem Stoff war. Der wäre in der Zwischenzeit so schmutzig gewesen, dass sie die Puppen nicht mehr hätte verkaufen können.
»Es handelt sich also wirklich um einen gewaltsamen Tod?«, fragte sie. Sie fürchtete sich vor der Antwort und wollte doch nichts lieber als Gewissheit.
»Dazu kann ich Ihnen zum jetzigen Zeitpunkt keine Auskunft geben«, erwiderte Chief Parsons ausweichend und legte das Püppchen zurück. Dann sah er sie zum ersten Mal direkt an. »Ich habe gehört, dass Sie einige Zeit mit kriminellen Geisteskranken gearbeitet haben. Ihnen ist doch wohl nicht einer dieser Männer heimlich gefolgt?«
Julie rang nach Luft. »Sie haben vollkommen recht, was meine frühere Arbeit betrifft, aber wenn jemand aus Bridgewater ausgebrochen und mir gefolgt wäre, wüssten Sie es sicherlich.«
Wieder schnappte er sich eine Voodoopuppe, diesmal eine leuchtend rote. Julie sah