»Wenn du in den Wagen steigst, dann trägt er dich fort aus deiner gewohnten Welt«, hörte sie Grannys Stimme.
Sie musste nicht einmal die Augen schließen, um sich die Karte in allen Einzelheiten zu vergegenwärtigen. Der junge Mann in schimmernder Rüstung, der aufrecht im Wagen stand, den Stab in der Rechten, die blonde, lockige Mähne im Zaum gehalten von einem goldenen Stirnreif, hatte sich in ihr Gedächtnis eingebrannt. Es gab Augenblicke, in denen sie seine Gegenwart zu spüren glaubte, und sogar seine melodische Stimme war ihr bis zum Beginn ihrer Teenagerzeit immer gegenwärtig gewesen.
Ihre Eltern waren bei einem Unfall gestorben, als sie noch ganz klein gewesen war, und sie war in Gesellschaft ihrer Großmutter und Tante aufgewachsen. Ihre Granny war eine harte, unbeugsame Frau gewesen, die ihre Zuneigung nicht einfach so verschenkt hatte. Weder Laurie noch Julie hatten es leicht mit ihr gehabt. Doch als Julie dreizehn geworden war, hatte sich alles geändert. Ihre Großmutter war gestorben, was Julie trotz ihres schwierigen Verhältnisses schwer getroffen hatte. Und dann hatte ihre Tante den Laden für Hexereibedarf übernommen und ein anderer, sanfterer Wind hatte zu wehen begonnen. Ohne Laurie, ihr Einfühlungsvermögen und ihre Großzügigkeit säße Julie wohl heute noch in Yarnville fest und würde von einem anderen Leben träumen. Und nun kehrte sie ausgerechnet wegen Laurie dorthin zurück.
Ein weiterer Blitz zuckte über den Himmel und riss Julie aus ihren Gedanken. Sie schaltete einen Gang runter. Die Scheibenwischer konnten mittlerweile gar nichts mehr gegen den Regen ausrichten und Julie hatte das Gefühl, sich inmitten eines Ozeans mühsam voranzukämpfen. Aus dem Radio kam nur noch ein schwaches Rauschen, aber sie wagte es nicht, die Hände vom Lenkrad zu nehmen, um einen anderen Sender zu suchen. Stattdessen warf sie einen kurzen Blick auf die Uhr und fragte sich, wann sie in Anbetracht des Schneckentempos, mit dem sie sich vorwärtsbewegte, ihr Ziel erreichen würde.
Sie richtete die Augen wieder nach vorn. War das ein Straßenschild, das ihre Scheinwerfer streiften? Sie nahm den Fuß vom Gas und starrte durch die Scheibe. Verdammt, sie konnte nicht einmal mehr erkennen, ob sie sich immer noch auf der Straße befand. Jetzt meldete sich auch noch ihr Handy, das auf dem Beifahrersitz lag. Sie schaute zur Seite und sah Alastairs Namen, der in grünen Leuchtbuchstaben auf dem Display pulsierte.
Langsam brachte sie den Wagen dort zum Halten, wo sie den Standstreifen vermutete. Ein Gutes hatte das Unwetter zumindest: Alle anderen Fahrer hatten sich die Warnung offenbar zu Herzen genommen und waren zu Hause geblieben. Julie musste also wenigstens nicht befürchten, von einem fremden Fahrzeug gerammt, von der Straße geschubst oder überfahren zu werden. Im Gegensatz dazu war die Aussicht, vom Blitz getroffen und zu einem Häufchen Asche pulverisiert zu werden, natürlich deutlich besser.
Bleib vernünftig, ermahnte sie sich. Ironie hilft dir jetzt auch nicht weiter. Ganz abgesehen davon, dass die Wahrscheinlichkeit nicht besonders hoch ist, vom Blitz getroffen zu werden. Sie griff nach dem Telefon und betätigte die Rückruftaste, halb in der Erwartung, nicht einmal ein Freizeichen zu hören.
Doch nach nur zwei Sekunden meldete sich Alastair. »Julie«, sagte er mit einer Mischung aus Anspannung und Erleichterung in der Stimme, die ihr durch und durch ging. »Wo bist du?«
»Ich habe keine Ahnung«, gab Julie zurück und versuchte, ihr laut pochendes Herz mit schierer Willenskraft zu beruhigen.
Sein Anruf konnte nur eines bedeuten. Wie um ihre schlimmsten Befürchtungen zu bestätigen, hörte sie ein leises Fluchen am anderen Ende der Leitung. Wenn der stets höfliche Alastair sich so weit gehen ließ, sein Missfallen in starken Worten kundzutun, musste es schlimm um Tante Laurie stehen.
»Es kann nicht mehr weit sein. Ich bin schon an Salem vorbeigefahren und nicht mehr auf der Interstate. Das Problem ist nur …«
»Julie, du musst so schnell wie möglich herkommen!«, unterbrach Alastair sie. »Der Arzt sagt, es wird nicht mehr lange dauern, bis …« Er sprach den Satz nicht zu Ende.
Julie wusste auch so, was er nicht sagen wollte. Sie hörte, wie er tief Luft holte.
»Bleib, wo du bist!«
»Du musst mich nicht abholen«, versicherte sie ihm. »Mein Wagen wird den Rest der Strecke schon schaffen. Ich kann nur nicht abschätzen, wie lange es dauern wird.«
»Julie«, sagte Alastair ungeduldig, »ich hatte nicht vor, dich abzuholen. Ich werde mich darum kümmern, dass dieses Unwetter sich von dir fortbewegt. Um es ganz enden zu lassen, reicht meine Kraft leider nicht.«
Julie schloss kurz die Augen. »Du weißt, was ich davon halte.«
Sie hörte, wie er mit leiser Stimme etwas zu jemandem sagte. Wahrscheinlich war es Tante Laurie, die wissen wollte, wo ihre Nichte blieb.
»Mir ist egal, was du davon hältst«, entgegnete er. »Du musst mir nur einen Gefallen tun: Geh zu einem Straßenschild und sieh nach, wo du dich befindest! Je zielgerichteter ich die Energie lenken kann, desto besser.«
»Ich will das nicht«, wehrte sich Julie, aber sie wusste bereits, dass sie auf verlorenem Posten stand.
Und tatsächlich nahm Alastairs Stimme einen scharfen Klang an: »Es geht hier nicht darum, was du willst. Deine Tante liegt im Sterben und sie will dich sehen, bevor sie geht. Mir ist es gleichgültig, ob du mit der Magie abgeschlossen hast oder nicht, Julie Mireau. Vergiss nicht, dass die Magie vielleicht noch nicht mit dir abgeschlossen hat! Und jetzt beweg dich und sieh nach, wo du bist! Ich brauche deine Koordinaten so genau wie möglich.« Er legte auf.
Julie presste die Lippen zusammen und lauschte den Geräuschen des Sturms. Sie erwog, seinen Befehl einfach zu ignorieren. Einzig und allein der Gedanke an Tante Laurie ließ sie schließlich seufzend nach der Taschenlampe im Handschuhfach suchen. Sie funktionierte, und zwar ganz ohne Magie.
Ha ha, sehr witzig, dachte Julie und merkte, wie verzweifelt sie war. »Du hast die Wahl«, sagte sie laut. Der Klang ihrer Stimme kam ihr fremd vor. Sie räusperte sich. »Ich habe die Wahl«, sagte sie noch einmal und betonte das erste Wort. Selbst allein und unbeobachtet im Wageninneren zog sie es vor, nicht mit sich selbst zu reden wie mit einer anderen Person. »Ich kann hier sitzen bleiben, warten, bis das Gewitter vorbei ist, und mich über Alastair ärgern. Oder ich kann aussteigen, mir das Straßenschild ansehen und Alastair den Gefallen tun.«
Sie würde nass werden, aber das war egal. Im Haus ihrer Tante erwarteten sie ein Feuer im Kamin und trockene Kleider. Also atmete sie einmal tief durch und drückte die Autotür auf.
Innerhalb weniger Sekunden war ihre Kleidung vollgesogen und klebte kalt auf ihrer Haut. Die Taschenlampe in der Hand, machte Julie sich auf den Weg zurück. Die Regentropfen prickelten auf ihrem Gesicht und sie musste sich mit einiger Kraft gegen den Wind stemmen, während der blasse Schein der Lampe wie ein Irrlicht durch die Dunkelheit flackerte. Ah, da hinten, das musste es sein.
Mit jedem Meter, den Julie sich dem Schild näherte, verblasste ihre Panik vor dem Gewitter. Nein, es war mehr als ein Zurückweichen der Angst, etwas viel Besseres, beinahe schon ein Sieg. Selbst der nächste Blitz änderte nichts an diesem Triumph. Wie hatte sie nur vergessen können, wie gut es sich anfühlte, sich der Furcht zu stellen?
Je näher sie dem Schild kam, desto heftiger schien der Wind sie in die entgegengesetzte Richtung drücken zu wollen, und zum Regen gesellte sich nun auch Hagel. Als sie es endlich erreicht hatte, starrte sie es ungläubig an. Bis nach Yarnville waren es nur noch zwei Meilen. Sie war weiter gekommen, als sie vermutet hatte, und brauchte Alastairs Zauberkräfte, ob nun eingebildet oder real, nicht. Die restliche Strecke würde sie auch ohne ihn schaffen.
Julie sah sich um. Wo war ihr Wagen geblieben? Das war doch nicht möglich! Sie hatte sich keine zwanzig Schritte vom Auto wegbewegt. Der Lichtschein ihrer Taschenlampe traf etwas Glitzerndes und sie atmete erleichtert auf. Für eine Sekunde hatte sie tatsächlich geglaubt, sich verirrt zu haben. Dorothy und der Wirbelsturm in Kansas kamen ihr in den Sinn, während sie sich schwerfällig auf ihren Wagen zu bewegte.
Kansas ist weit weg, und