Julie senkte den Kopf und nickte. »Schon gut, ich verstehe.« Dann stand sie auf und ging zu ihm hinüber.
Warum hatte er sich nicht einen Stuhl genommen und kniete stattdessen auf einem Sofakissen? Wahrscheinlich war er der Meinung, diese Position sei die einzig würdevolle Möglichkeit, Laurie in ihrer schwersten Stunde beizustehen.
Julie hockte sich neben ihn und legte besänftigend ihre Hand auf seine. Zuerst glaubte sie, er wolle sie zur Seite stoßen, aber dann entspannten sich seine Finger unter ihren. Mit ihrer Hand in seiner Linken und Lauries in seiner Rechten war es wie ein Kreis, in dem die Energie ungehindert fließen konnte – so wie früher, wenn ihre Großmutter und Tante Laurie sie in die Mitte genommen hatten, um eines der harmloseren Rituale mit ihr durchzuführen.
Bei dieser Erinnerung begann Julie, sich unwohl zu fühlen. Sie wollte ihre Finger lösen, aber Alastair hielt sie fest.
»Es dauert nicht mehr lange«, flüsterte er und verstärkte seinen Griff.
Und tatsächlich tat Laurie kurz darauf ihren letzten Atemzug – mit offenen Augen, die Julie bis zuletzt nicht losließen. Es war ein merkwürdiger Moment, denn obwohl Julie sah, dass Laurie nicht mehr lebte, hatte sie nicht das Gefühl, dass ihre Tante wirklich fort war. Erst als Alastair ihr sanft die Lider schloss und etwas murmelte, das Julie nicht verstand, begriff sie, dass es wirklich und wahrhaftig vorbei war.
»Jetzt kannst du einen Arzt rufen«, sagte er, während er aufstand und sich auf die Hosenbeine klopfte.
Julie erhob sich ebenfalls und wollte ihn umarmen, aber er drehte sich fort von ihr und ging zum Fenster. Sein Gesicht spiegelte sich in der Scheibe und Julie sah, dass er lächelte. Ihre Blicke trafen sich in der Fensterscheibe und kurz glaubte Julie, eine Bewegung hinter ihrem Rücken zu sehen, einen Schatten, der sich drohend erhob. Sie rieb sich die Augen und die Erscheinung verschwand.
»Wärst du so lieb, mich ein paar Minuten mit deiner Tante allein zu lassen?«, fragte Alastair.
»Natürlich«, antwortete Julie, ging in den Flur hinaus und schloss leise die Tür hinter sich. Dann sah sie sich um.
Das Telefon stand noch immer auf dem Tischchen und daneben lag Tante Lauries kleines schwarzes Adressbuch. Julie fand die Nummer ihres Arztes, rief ihn an, und die Maschinerie geriet in Bewegung.
Der Arzt kam, stellte den Totenschein aus und gab Julie den Prospekt des einzigen Beerdigungsunternehmens der Stadt. Ohne den bunten Bildern einen Blick zu gönnen, suchte sie nach der Telefonnummer und bat den Bestatter, ihre Tante abzuholen. Alastair wich unterdessen nicht von Lauries Seite. Erst als der Bestatter ihn behutsam an der Schulter berührte, schien er aus seinem Dämmerzustand zu erwachen und wahrzunehmen, was um ihn herum geschah. Der Bestatter sprach ihm sein Beileid aus, bevor er sich wie in einem Nachgedanken Julie zuwandte und ihr ebenfalls die Hand drückte. In diesem Moment begriff sie, dass nicht sie, sondern Alastair, der langjährige Vertraute ihrer Tante, als der Hauptleidtragende galt.
Nachdem der Bestatter gegangen war, folgte Julie Alastair in die Küche. Auch hier war fast alles noch genau so, wie sie es in Erinnerung hatte. Die einzigen Neuerungen waren technischer Natur, wie etwa die Spülmaschine und ein riesiger Kühlschrank.
»Soll ich uns einen Tee kochen?«, bot Julie an.
Alastair nickte stumm und setzte sich an den Küchentisch. Julie nahm zwei Tassen und die angeschlagene Teekanne mit dem verblassten Rosenmuster, die ihre Großmutter so oft benutzt hatte, aus dem Schrank. Alles fühlte sich vertraut und fremd zugleich an.
Alastair räusperte sich. »Du weißt, dass Laurie diesen ganzen modernen Kram nur für dich hat einbauen lassen. Es gibt jetzt sogar eine Internetverbindung hier.«
Julie setzte Wasser auf und versuchte, das wachsende Gewicht auf ihren Schultern zu ignorieren. Alastair war wie eine Katze, die sich ihrer Beute nicht direkt näherte, sondern sie zuerst in Sicherheit wiegte. In dem Augenblick, in dem Julies Wachsamkeit nachließ, würde er zuschlagen. Sicher, er hatte nur »ihr Bestes« im Sinn, aber das machte es nicht leichter für sie.
»Ja«, antwortete sie schließlich. »So wird sich das Haus leichter verkaufen lassen.« Sie gab Teeblätter in die Kanne, und als das Wasser kochte, goss sie es hinein. Sofort stieg der Duft von Kräutern und Blüten auf.
Julie setzte sich Alastair gegenüber und spürte, wie sich das schlechte Gewissen in ihr ausbreitete. Sie griff über den Tisch und nahm seine Hand.
»Du weißt, dass ich nicht hierbleiben werde«, sagte sie leise. »Ich kann nicht. Ich habe ein eigenes Leben, eines, das mit Yarnville nichts zu tun hat.«
Alastair schnaubte, sagte aber nichts, sondern sah sie einfach nur an. Julie ließ seine Hand wieder los und rutschte unbehaglich auf ihrem Stuhl hin und her. Es spielte keine Rolle, dass sie Mechanismen wie sein Schweigen zu durchschauen gelernt hatte – sie entfalteten ihre Wirkung trotzdem.
Verdammtes Yarnville! Seit sie die Stadtgrenze passiert hatte, fühlte sie sich, als wäre sie wieder sechs Jahre alt.
»Ich bin eine erwachsene Frau«, beharrte sie. Sehr überzeugend, Julie, dachte sie und hielt sich an ihrer Tasse fest. »Sobald das Testament verlesen wurde, werde ich wieder fortgehen.«
»Ach ja?«, fragte Alastair. »Und deshalb hast du deinen Haushalt aufgelöst und tauchst hier mit jeder Menge Gepäck auf? Erzähl mir nichts, Julie! Ich kenne dich. Du läufst wieder einmal davon. Was ist es diesmal? Ein Mann?«
Julie zuckte zusammen. »Das geht dich nichts an. Und nur weil du mich seit meiner Geburt kennst, hast du nicht das Recht, mir vorzuschreiben, wie ich mein Leben zu führen habe.«
»Nein«, stimmte er ihr überraschenderweise zu. »Aber wie üblich bist du blind für das, was die Menschen in deiner Umgebung antreibt.«
Autsch, das tat weh!
»Es ist nicht die Tatsache, dass ich dich gut kenne, die mich so offen sprechen lässt«, erklärte er. »Ich kann vielleicht nicht behaupten, dir ein Vater gewesen zu sein, aber ich meine mich zu erinnern, dass ich immer für dich da war, wenn du mich brauchtest.«
Die umständliche Formulierung zeigte ihr, wie verletzt er sein musste. Tatsächlich war er der einzige Mann, der konstant von ihrer Kindheit bis zum Erwachsenwerden ein Teil ihres Lebens gewesen war, auch wenn er immer weiter in den Hintergrund getreten war, je älter sie geworden war.
Er schien nach den passenden Worten zu suchen. »Wärst du mir gleichgültig, dann würde ich einfach den Mund halten und gehen«, sagte er schließlich. »Aber das kann ich nicht, meine Zuneigung zu dir ist zu groß.«
Die letzte und schärfste Waffe war immer die Liebe. Julie hatte es geahnt. Gerade als sie den Mund öffnete, um Alastair zu antworten, hob er die Hand.
»Bitte, lass mich aussprechen!«
Sie nickte. Was blieb ihr auch anderes übrig?
»Ich weiß, du willst nichts mehr mit Yarnville, mit deiner Vergangenheit hier zu tun haben. Aber du bist es deiner Tante schuldig, es zumindest einmal zu versuchen. Gib Yarnville eine Chance! Gib dir selbst eine Chance, endlich mit der Vergangenheit abzuschließen, Julie! Der Laden ist ebenso wie das Haus bereit für dich.«
Julies Herz zog sich schmerzhaft zusammen. Ihre Tante hatte alles getan, damit sie sich hier wohlfühlte. Einen letzten Einwand hatte sie aber noch, auch wenn sie ahnte, dass Alastair ihn ebenfalls als unbedeutend abtun würde.
»Ich kann das Itchy Witchy nicht übernehmen.« Der alberne Name des Geschäfts kam ihr nur schwer über die Lippen. »Ich glaube nicht an Hexerei. Wie kann ich in einem Laden arbeiten, der davon lebt, nicht nur esoterische Bücher, sondern vor allem Bedarfsartikel für die Hexe von heute zu verkaufen?« Sie schüttelte den Kopf.
Zu spät bemerkte sie das Glitzern in Alastairs Augen. Die Fältchen in seinen Augenwinkeln zeugten von seiner Heiterkeit. Es war beinahe eine Erleichterung,