Julie ging zu ihr hinüber und räusperte sich. Mrs Saintclair blickte auf und ihre Augen begannen zu leuchten.
»Miss Mireau, Sie sind tatsächlich gekommen«, sagte sie und legte das Buch zur Seite.
Auf dem Cover war eine junge Frau mit tiefem Dekolleté abgebildet. Hinter ihr stand ein gut aussehender Mann, der die Arme um ihre Taille geschlungen hatte und sie auf den Hals küsste. Auch Mrs Saintclair schien also Nackenbeißer-Romane zu mögen. Julie grinste kurz.
»Oh ja, ich liebe Romanzen, je kitschiger, desto besser«, gab Mrs Saintclair zu, die Julies Blick offenbar richtig gedeutet hatte. »Man kann schließlich nie genug Romantik im Leben haben, finden Sie nicht?«
Na ja, dachte Julie und überlegte, was sie sagen sollte. Bislang war sie ohne Mann ganz gut durchs Leben gekommen. Aber vielleicht verwechselte sie auch nur Romantik mit Liebe.
Mrs Saintclair schien keine Antwort erwartet zu haben. »Und bis der Mann meiner Träume, den Sie mir vorausgesagt haben, auftaucht, begnüge ich mich mit diesem Prachtexemplar hier.« Sie zeigte auf das Buchcover und lächelte. »Aber Sie sind sicher nicht hergekommen, um mit mir über Liebesromane zu sprechen. Was kann ich für Sie tun?« Julie öffnete den Mund, aber Mrs Saintclair fuhr bereits fort: »Nein, sagen Sie nichts! Sie wollen sich das Familienbuch der Mireaus anschauen, habe ich recht?«
Julie starrte sie an. »Welches Buch? Ich wusste nicht einmal, dass so etwas existiert.« Sie biss sich auf die Lippe und fragte sich, welche Geheimnisse Laurie wohl noch vor ihr gehabt hatte. »Eigentlich bin ich hier, um Sie nach meiner Tante zu fragen. Und ich möchte wissen, ob es in der Gegend jemanden gibt, der sich mit schwarzer Magie beschäftigt.«
Mrs Saintclair wurde blass. »Setzen Sie sich!«, sagte sie und deutete auf einen der Stühle, die vor dem Schreibtisch standen. »Ihre Fragen lassen sich nicht in ein paar Minuten beantworten. Ich dachte, Ihre Großmutter oder zumindest Ihre Tante hätte Ihnen von dem Buch erzählt. Laurie war schließlich oft genug hier, um es sich anzuschauen.« Sie warf Julie einen prüfenden Blick zu und erhob sich. »Warten Sie kurz, Kindchen! Ich schließe eben ab, und dann erzähle ich Ihnen alles, was ich weiß.« Damit holte sie einen Schlüsselbund aus ihrer Tasche und entfernte sich. Als sie zurückkam, hatte sie ein großes Buch bei sich. Sie trug weiße Baumwollhandschuhe und reichte Julie ebenfalls ein Paar. »Ziehen Sie die an!«
Verwundert sah Julie erst sie, dann das Buch an. Es war nicht nur alt, sondern musste auch durch viele nicht allzu behutsame Hände gegangen sein. Der lederne Einband war speckig und so abgegriffen, dass die eingeprägten Symbole kaum noch erkennbar waren. Julie wollte es berühren, aber Mrs Saintclair schüttelte den Kopf.
»Nicht ohne die Handschuhe, meine Liebe! Es ist zu Ihrem eigenen Schutz.«
»Wieso? Sind die Seiten vergiftet?«, fragte Julie scherzhaft, denn sie erinnerte sich an Umberto Ecos grandiosen Roman über einen mittelalterlichen Detektiv, der sich ebenfalls mit Handschuhen vor den mit Gift bestrichenen Seiten eines geheimen Buches schützte.
Mrs Saintclair sah sie ohne die geringste Andeutung eines Lächelns an. »Man hat Ihnen wirklich nicht viel über Ihre Familie gesagt, nicht wahr?«, stellte sie mitleidig fest.
Julie versteifte sich. Sie wollte von dieser Frau nicht bedauert werden, sondern endlich wissen, was los war. Mühsam unterdrückte sie ihre Ungeduld, zog sich die Handschuhe an und griff nach dem Buch.
Aber Mrs Saintclair hielt es immer noch fest. »Das ist ein Grimoire«, sagte sie bedeutsam. »Wissen Sie, was das bedeutet?«
»Aber ja, es ist eine Sammlung von Zaubersprüchen«, gab Julie zurück und ließ die Arme sinken. War sie jetzt wieder in der Schule?
Mrs Saintclair nickte. »Das stimmt. Aber das Grimoire der Mireaus ist ein besonderes Exemplar. Es ist hell und dunkel zugleich.«
»Das heißt, es enthält sowohl schwarze als auch weiße Sprüche?«, fragte Julie zögernd. »Wie kann das sein? Die Frauen meiner Familie waren allesamt weiße Hexen.«
»Das hat man Ihnen erzählt«, erwiderte Mrs Saintclair. Ihre Augen blitzten und ihr Gesicht wirkte merkwürdig zufrieden.
»Wie meinen Sie das?«, wollte Julie wissen.
»Nun, ich kannte Ihre Familie recht gut«, erklärte Mrs Saintclair. »Leider starb Ihre Mutter zu früh, um ihren Platz als Nachfolgerin Ihrer Großmutter einzunehmen. Und als dann Ihre Granny von uns ging, waren Sie noch viel zu jung. Also musste Laurie wohl oder übel die Position einnehmen, die eigentlich Ihnen vorbestimmt war.«
Mit dieser Information war Julie noch immer nicht schlauer. Was hatte das denn mit schwarzen und weißen Hexen zu tun?
Als habe Mrs Saintclair ihre Gedanken gelesen, sagte sie: »Die Hexen in Ihrer Familie sind abwechselnd hell und dunkel. Soweit ich weiß, war Ihre Großmutter eine schwarze Hexe. Ihre Mutter wäre eine weiße Hexe geworden, hätte sie bis zur Entfaltung ihrer Macht gelebt.«
Fassungslos starrte Julie sie an. »Nur mal angenommen, ich würde an Hexerei glauben – was ich nicht tue –, wollen Sie mir sagen, ich wäre eine schwarze Hexe? Das ist absurd.«
»Meine Liebe, Sie belügen sich selbst«, behauptete Mrs Saintclair. »Werden Sie wach! Sie sind schon einmal vor der Verantwortung davongelaufen. Das wird Ihnen kein zweites Mal gelingen. Sie sind nach Yarnville zurückgekehrt, in den Ort, in dem die Mireau-Hexen geboren werden, leben und sterben. Es ist Ihre Bestimmung, hier das Erwachen Ihrer Macht zu erwarten.«
Stumm schüttelte Julie den Kopf.
»Sagen Sie, haben Sie in den letzten Tagen seltsame Dinge erlebt?«, fuhr Mrs Saintclair erbarmungslos fort. »Vielleicht hatten Sie verstörende Träume. Deshalb sind Sie doch eigentlich zu mir gekommen, nicht wahr?«
Entsetzen überkam Julie. Woher wusste die Frau das?
Ihr Gesichtsausdruck musste sie verraten haben, denn Mrs Saintclair sprach weiter: »Glauben Sie mir, Sie können nichts dagegen tun. Ihre Tante hat vergeblich versucht, die Linie zu unterbrechen, aber Sie haben ja gesehen, was aus ihr geworden ist: Sie wurde krank und starb vor ihrer Zeit. Dasselbe wird mit Ihnen geschehen, wenn Sie sich der Macht verweigern.«
Nun reichte es Julie. »Sie sind ja verrückt«, krächzte sie und stand auf. Ihr Mund fühlte sich trocken an, ihre Kehle war wie ausgedörrt.
Mrs Saintclair, die das Grimoire jetzt fest an ihre Brust presste, lachte auf. »Nein, ich bin nicht verrückt. Ich bin die Bibliothekarin.« So, wie sie die letzten beiden Worte betonte, mussten sie eine bestimmte Bedeutung haben, die Julie nicht kannte. »Doch zumindest teilweise haben Sie recht«, gab Mrs Saintclair zu. »Ich werde verrückt. Das ist das Schicksal aller Menschen, die sich zu lange mit Zauberbüchern beschäftigen. Aber noch ist es nicht so weit.«
Julie war sich da nicht so sicher. Vorsichtig wich sie einen Schritt zurück.
Verflixt, wie sollte sie nur aus der Bibliothek herauskommen? Mrs Saintclair hatte abgeschlossen, daran erinnerte sie sich. Wo war nur der Schlüssel? Suchend sah Julie sich um. Und was war mit dem Grimoire? Sie wollte es unbedingt mitnehmen. Zwar glaubte sie nicht alles, was Mrs Saintclair ihr erzählt hatte, aber es schadete sicher nichts, in den Aufzeichnungen ihrer Familie zu lesen.
»Geben Sie mir das Buch und lassen Sie mich hier raus!«, befahl sie so ruhig, wie sie konnte.
Mrs Saintclair lachte gackernd. »Sonst tun Sie was? Verwandeln Sie mich in ein Huhn?«
Das war irgendwie naheliegend. Julie verkniff sich ein Grinsen.
»Das können Sie nicht«, behauptete Mrs Saintclair. »Noch nicht.«
»Sind Sie sicher?«, fragte Julie. Mit klopfendem Herzen trat sie wieder einen Schritt auf Mrs Saintclair zu. »Wussten Sie, dass ich nun schon fast zwölf Monate in Yarnville lebe? In einem Jahr kann viel geschehen. Kräfte können