Irgendetwas an dieser Logik war verdreht, aber Julie war zu aufgewühlt, um klar denken zu können. Instinktiv griff sie nach den Tarotkarten und fühlte sich sofort besser. Das Zittern hatte nun vollständig aufgehört.
»Also gut«, gab sie nach und begann, die Karten zu mischen. Mit jeder Sekunde, die sie sie in den Händen hielt, wuchs ihre Ruhe. Selbst das nervöse Flattern in ihrem Bauch legte sich. »Gibt es etwas Besonderes, das Sie wissen möchten?«
»Ja«, sagte Mr Sargent gedehnt und betrachtete sie aufmerksam. Dann lächelte er. »Ich möchte wissen, ob mein derzeitiges Projekt von Erfolg gekrönt sein wird.«
Julie stutzte. Seine Wortwahl war seltsam ausweichend und sein Lächeln beunruhigte sie. Wieder meldete sich ihr ungutes Gefühl. Aber er war nun mal eine potenzielle Informationsquelle. Vielleicht wusste er ja tatsächlich etwas, das ihr bei den Nachforschungen über ihre Familie half. Sie musste versuchen, ihm ein paar Dinge zu entlocken.
Konzentriert mischte sie ein letztes Mal, wobei sie intensiv an Mr Sargents Frage dachte. Dann legte sie die Karten verdeckt aus, bis das Muster komplett war. Mr Sargent beugte sich vor und drehte die Karten um.
Was Julie sah, ließ ihr den Atem stocken. Als Erstes nahm sie eine Atmosphäre von Gewalt wahr, die sich in den Bildern spiegelte. Schweiß trat ihr auf die Stirn, als sie versuchte, den Sinn dahinter zu erkennen. Anders als bei den spielerisch anmutenden Sitzungen, die sie bisher abgehalten hatte, kam es jetzt auf eine exakte Deutung an.
Sie richtete ihre gesamte Aufmerksamkeit auf die Karten und erkannte eine bedrückende Vergangenheit voller Machtmissbrauch. Ein Mann, wahrscheinlich Mr Sargent selbst, hatte sich bis zur Selbstaufgabe für eine Sache eingesetzt und niemals an seiner Mission gezweifelt. Doch insgesamt wurde Julie einfach nicht schlau aus den Bildern. Es war die seltsamste, widersprüchlichste Verbindung von Karten, die sie jemals gesehen hatte: Da gab es die Gerechtigkeit, das As der Stäbe und den König der Schwerter. Daneben lag die Sechs der Stäbe, die von einem hart erkämpften Sieg sprach, selbst wenn der Weg des Reiters noch nicht zu Ende war, die aber auch davor warnte, sich auf seinen Lorbeeren auszuruhen.
In dieser Legung mischten sich gute Absichten mit Dunkelheit; Liebe und Hass waren untrennbar durch einen eisernen Willen vereint. Die Bilder sprachen von einem zutiefst zerrissenen Mann, der Licht und Schatten in sich trug. Die Karte, die für Mr Sargents eigentliches, großes Ziel stand, war der Turm. Er verhieß Zerstörung, den Zusammenbruch einer Illusion.
Julie lief es kalt den Rücken runter. Sie wusste nun zwei Dinge mit absoluter Gewissheit: Mr Sargent war ein gefährlicher Mann, den sie nicht unterschätzen durfte, und seine Psyche war labil. Vermutlich stand er kurz davor, die Kontrolle über sich zu verlieren – wenn dies nicht bereits geschehen war. Ein weiterer Gedanke schoss ihr durch den Kopf: Was, wenn er hinter den Morden steckte und nun versuchte, ihr seine Taten in die Schuhe zu schieben? Aber warum hatte Mrs Saintclair ihn dann zu ihr geschickt? Julie wagte nicht, ihn anzusehen.
»Und? Was sagen Ihnen die Karten über mich?«, fragte Mr Sargent erwartungsvoll.
»Auf jeden Fall nicht, dass ich Ihnen vertrauen kann«, wich Julie einer direkten Antwort aus. »Aber ich kann erkennen, dass Sie ein großes Ziel verfolgen, dem Sie alles andere unterordnen. Einen Teilsieg haben Sie bereits errungen.« Nun schaute sie ihn doch an. Sie musste wissen, ob sie richtig lag.
Mr Sargent nickte, er wirkte zufrieden. »Vielen Dank!«, sagte er. »Das war sehr aufschlussreich. Ich lasse Ihnen meine Karte da.« Er legte sie auf den Tisch und erhob sich. »Melden Sie sich, wenn Sie meine Hilfe brauchen!« Damit ging er zur Tür, wo er sich noch einmal umdrehte. »Eines noch: Halten Sie sich von dem Cop fern, der hier in der Stadt herumschnüffelt! Er ist nicht gut für Sie.«
Julie erwachte wie aus einer Trance. »Moment mal!«, protestierte sie und stand ebenfalls auf. »Sie können jetzt nicht so einfach verschwinden. Nicht nachdem Sie jede Menge Andeutungen gemacht und mich sogar des Mordes bezichtigt haben.«
»Doch, ich kann, Miss Mireau«, erwiderte Mr Sargent. »Ich glaube, dass Sie meine Hilfe im Moment noch nicht dringend genug brauchen. Vielleicht nach dem nächsten Todesfall unter den Hexen?« Er lächelte zynisch. »Es liegt ganz bei Ihnen, ob wir uns wiedersehen.« Dann wandte er sich um und verließ den Raum.
Julie begann erneut zu zittern. Ihr war eiskalt und sie hatte Angst. Dennoch folgte sie ihm und sah gerade noch, wie sich die Ladentür hinter ihm schloss.
»Was ist denn los?«, fragte Cassandra erstaunt.
Aber Julie antwortete ihr nicht. Sie ging zurück ins Hinterzimmer und nahm die Karte, die Mr Sargent ihr dagelassen hatte, vom Tisch. Eine Weile starrte sie darauf, ohne etwas zu erkennen, doch dann entzifferte sie seinen Namen und eine Handynummer. Das war alles? Nein, das konnte nicht sein! Sie drehte die Karte um und ihr Herzschlag setzte aus.
»Hexenjäger« stand dort in tiefschwarzer Schrift. Die Buchstaben tanzten vor Julies Augen. Mr Sargent hielt sich für einen Hexenjäger. Margaret, die liebe tote Margaret, hatte recht gehabt.
KAPITEL 12
Die Kraft
Es war eine unruhige Nacht. Wieder bevölkerten lebendig gewordene Tarotkarten Julies Albträume. Sie trieben sie auf einen Scheiterhaufen zu. Die unbarmherzige Königin der Stäbe fesselte sie an den Pfahl. Gleichzeitig maunzte die Katze der Frau höhnisch und kündigte die Ankunft einer neuen Karte an. Es war der Tod selbst, der von seinem weißen Ross stieg und mit einer einzigen Handbewegung das Holz zu Julies Füßen entzündete. Und während die Flammen höher und höher emporstiegen, versuchte Julie vergeblich, sich von ihren Fesseln zu befreien. Sie hustete, ihre Augen tränten und das Feuer brannte auf ihrer Haut. Erst als der Schmerz unerträglich wurde, gelang es ihr, aufzuwachen.
Ein paar Sekunden lang war sie völlig verwirrt. Ihre Fußsohlen schmerzten, als sei sie über glühende Kohlen gelaufen. Vorsichtig schlug sie die Bettdecke zurück und schloss noch einmal kurz die Augen. Die irrationale Angst, dort unten nur noch verbranntes Fleisch zu sehen, beherrschte ihre Gedanken. Doch als sie die Augen wieder öffnete, sah sie, dass ihre Füße wie immer waren – rosig, vielleicht ein kleines bisschen pflegebedürftig, aber völlig unversehrt.
Sie schüttelte den Kopf über ihre lebhafte Fantasie und beschloss, von nun an wirklich und wahrhaftig die Finger von den Tarotkarten zu lassen. Diese intensiven Albträume waren ein zu hoher Preis. Dann stand sie auf und ging in die Küche hinunter. Zwei Tassen Kaffee und ein butteriges Croissant später fühlte sie sich besser, aber immer noch nicht wirklich gut. Sie sollte endlich einmal mit Alastair über ihre eigenartigen Träume sprechen. Er war auch der Einzige, dem sie von den Voodoopuppen aus Lauries Grab erzählen konnte. Überhaupt hatte sie ihn in den vergangenen Tagen ziemlich vernachlässigt. Wann hatten sie eigentlich zum letzten Mal miteinander geredet, geschweige denn sich gesehen?
Mit einem schlechten Gewissen wählte sie seine Nummer, obwohl sie wusste, dass er gern lange schlief. Es klingelte mehrere Male. Julie stellte sich schon darauf ein, eine Nachricht auf seinem Anrufbeantworter zu hinterlassen, als jemand abnahm und sich mit einem energischen »Hallo?« meldete. Es war nicht Alastair.
Julies Puls beschleunigte sich. »Mit wem spreche ich?«
»Chief Parsons hier«, antwortete die Stimme. »Sind Sie das, Miss Mireau?«
In Julies Kopf brach ein Wirbelsturm los. Ihre Finger krampften sich um ihr Handy, als wolle sie es nie wieder loslassen.
Vielleicht hat das ja gar nichts zu bedeuten, dachte sie panisch.
Ja, vermutlich war bei Alastair eingebrochen worden. Das würde die Anwesenheit von Chief Parsons erklären. Am besten beendete sie den Anruf jetzt, als wäre nichts passiert. Alastair war am Leben und sie würde später wie jeden Tag in ihren kleinen Laden gehen, esoterische Bücher und alberne Püppchen verkaufen. Genau genommen war sie sogar dankbar dafür. Und sie würde Alastair niemals