»Das ist schwarze Magie«, erklärte Miss Delaney entsetzt, als Julie sie darauf ansprach.
Die Grundschullehrerin war zu ihr gekommen, um sich die Karten legen zu lassen – etwas, das Julie inzwischen anbot, da ihre Tante Laurie es auch getan hatte. Und sie vermutete, dass Miss Delaneys verlegenes Gestammel weniger mit ihrem dringenden Bedürfnis nach einem Blick in die Zukunft zu tun hatte, als vielmehr mit einem gewissen rothaarigen Feuerwehrmann, nach dem sie sich mindestens drei Mal betont unauffällig erkundigt hatte.
Es war Julie ein Rätsel gewesen, warum sich die vernünftige, wenn auch manchmal leicht chaotische Miss Delaney ausgerechnet zu Red hingezogen fühlte. Aber bei genauerem Nachdenken war sie zu dem Schluss gekommen, dass die Verbindung gar nicht so unpassend war. Red brauchte eine Frau, die in der Lage war, seiner Besserwisserei Paroli zu bieten. Und dafür war Miss Delaney bestens geeignet.
Nach einem anstrengenden Tag schloss Julie nachdenklich den Laden ab. Niemand hatte ihr einen Hinweis zu den Voodoopuppen geben können oder wollen. Es schien beinahe, als wäre jede einzelne Hexe in Maine von der gütigen Sorte, webte wohlwollend ihre Geld- und Liebeszauber und wünschte niemandem etwas Böses an den Hals. Aber das konnte nicht sein. Irgendjemand musste schließlich die Puppen in Tante Lauries Grab versteckt haben.
Ob Julie sie vielleicht doch Mr Blair zeigen und ihn um Rat fragen sollte? Nein, leider hinderte sie seine verdammte Arroganz daran, sich ihm anzuvertrauen.
Und noch etwas wunderte sie: Keines der verbliebenen Hexenzirkelmitglieder hatte sich bei ihr gemeldet, nicht einmal Alastair. Vermutlich waren sie nach Margarets Tod zu schockiert und verängstigt, um ihre Häuser zu verlassen.
Am Abend goss sich Julie nach dem Essen ein Glas Wein ein und setzte sich mit den Tarotkarten ins Wohnzimmer. Sie hatte sich angewöhnt, sie immer bei sich zu haben, auch wenn sie das manchmal selbst erstaunte. Eine lange Zeit sah sie sich die bunten Bilder nur an, ohne bewusst an etwas zu denken. Ihr fiel ein, wie sehr Alastair an die Karten glaubte. Und dann erinnerte sie sich an das Gefühl drohenden Unheils, das sie an dem Abend empfunden hatte, als sie ihm zum ersten Mal die Karten gelegt hatte. Hätte sie Jolenes oder Margarets Tod verhindern können, wenn sie die Warnung ernst genommen hätte? Und sollte sie nicht schauen, was die Zukunft bringen würde, ob noch jemand in Gefahr war?
Ihr schlechtes Gewissen siegte über ihre Skepsis. Zuerst zögernd, dann immer mehr beflügelt vom Wein, legte sie sich selbst die Karten. Sie deckte sie auf, betrachtete fasziniert die bunten Zeichnungen und versuchte, die Bilder auf sich wirken zu lassen.
Die Karte der Vergangenheit war die Zehn der Stäbe. Sie stand für Unterdrückung und schier unmenschliche Anstrengung. In der Gegenwart verhieß die Zehn der Münzen plötzlichen Reichtum, in materieller wie auch in geistiger Hinsicht. Man konnte die Karte sogar als »menschlichen Reichtum« deuten, der sich in unerwarteter Unterstützung zeigte. Julie lächelte. Etwas Unterstützung wäre tatsächlich nicht schlecht.
In der Zukunft erwartete sie die Kraft. Das Bild zeigte eine Frau, die einen Löwen bändigte. Julie erkannte die Bedeutung ohne langes Nachdenken: Selbstvertrauen und das Entdecken der eigenen Fähigkeiten lagen vor ihr. Aber vielleicht hätte sie doch lieber auf den Wein verzichten sollen, denn der Löwe schien ihr plötzlich zuzuzwinkern. Noch während sie das wilde Tier wie hypnotisiert ansah, überkam sie eine lang vermisste Ruhe. Es war seltsam und fühlte sich an, als hätte sie Frieden mit ihrer Vergangenheit geschlossen.
Ihre Granny, die ihr eine Frage nach der anderen stellte, um ihre Fähigkeiten zu testen, kam ihr in den Sinn. Sie erinnerte sich noch genau an den Blick der alten Frau, wie sie ihre Enttäuschung zu verbergen versucht hatte angesichts Julies Unfähigkeit. Laurie dagegen hatte immer versucht, ihr zu helfen. Eine Zeit lang hatte sie ihr sogar bittere Tränke eingeflößt, die ihr magisches Talent zum Erwachen bringen sollten. Aber nichts war geschehen, natürlich nicht.
Zuerst war Julie traurig gewesen, weil sie die Einzige in der Familie war, die keinen Funken Hexenkraft in sich trug. Wie sehr sie sich bemüht hatte, der Großmutter zu gefallen, wie verzweifelt sie sich danach gesehnt hatte, endlich selbst einen Zauberspruch wirken zu können! Jetzt, im Nachhinein, erschienen ihr diese Bemühungen fast schon krankhaft. Aber damals war sie noch ein Kind gewesen, das sich nach der Liebe ihrer Familie sehnte.
Julie seufzte und sah, dass die Flasche Wein bereits zu drei Vierteln leer war. Kein Wunder, dass sie so sentimental geworden war. Trotzdem, es war schon eigenartig, wie selbstverständlich sie an die Macht ihrer Granny und ihrer Tante geglaubt hatte. Später, als ihr klar geworden war, dass sie niemals in die Fußstapfen ihrer toten Mutter treten würde, hatte sich ihr Interesse der Psychologie zugewandt, die ihr als eine hervorragende wissenschaftliche Alternative zur Magie erschienen war.
Wann hatte sie aufgehört, an Zauberei zu glauben? Sie erinnerte sich nicht, wie alt sie gewesen war. Umso merkwürdiger war es, dass sie sich jetzt zum ersten Mal, seit sie nach Yarnville zurückgekehrt war, hier zu Hause fühlte. Das Kartenlegen hatte ihr das Gefühl gegeben, endlich angekommen zu sein. Nun ja, keiner zwang sie, daran zu glauben, aber es schadete auch niemandem, wenn sie es praktizierte.
Julie war ein wenig hin- und hergerissen. Einerseits kam es ihr so vor, als könnte sie Tante Laurie und Granny nun endlich zufriedenstellen – und das fühlte sich gut an. Aber andererseits schienen die Tarotkarten im Gegensatz zur Wissenschaftlichkeit ihres Studiums zu stehen, über das sie sich bisher definiert hatte.
Sie seufzte erneut und beschloss, endlich ins Bett zu gehen.
In den nächsten Tagen hatte Julie kaum Zeit zum Nachdenken. Die Kunden strömten in Massen in ihren Laden. Es herrschte solch ein Betrieb, dass Julie sogar Cassandra um Hilfe bitten musste. Doch selbst mit der jungen Frau an ihrer Seite kam Julie nicht wirklich dazu, die beiden Toten zu betrauern. Außerdem nahm sie sich immer wieder vor, Alastair anzurufen, war dann aber zu beschäftigt oder zu müde. Denn wenn sie abends nach Hause kam, reichte ihre Energie gerade noch, um eine Pizza in den Backofen zu schieben.
Die Zusammenarbeit im Itchy Witchy funktionierte recht gut. Während Cassandra an der Kasse stand, Geschenke einpackte oder Waren einräumte, saß Julie im Hinterzimmer und legte Karten.
In den wenigen ruhigeren Momenten war ihr etwas beklommen zumute. Die Kunde von den Sitzungen schien sich wie ein Lauffeuer zu verbreiten, immer mehr Frauen kamen zu ihr und baten sie um Hilfe. Und Julie spürte eine nie zuvor gekannte Zufriedenheit, wenn sie die Tarotkarten mischte und auslegte. Es war seltsam, irritierend, vielleicht sogar beunruhigend – aber trotzdem schön. Außerdem hatte das Ganze einen praktischen Nebeneffekt: Die Kasse klingelte.
Wenn Julie im Laden war, kamen ihr auch immer wieder Gerüchte über Jolenes und Margarets Tod zu Ohren. Aber es war nichts dabei, was sie als eine hilfreiche Spur erkannt hätte. Da war die Rede von Einbrechern, die die Frauen erst niedergeschlagen und dann ihre Häuser angezündet hatten. Auch von spontaner Selbstentzündung sprachen einige, was Julie besonders absurd fand, vor allem da ja zwei Personen betroffen waren. Von offizieller Seite gab es noch keine Stellungnahme.
Myrtle glaubte offenbar an Margarets Theorie von den organisierten Hexenjägern. Als Julie sich mit ihr unterhielt, wirkte die ältere Frau stark verängstigt. Vergeblich versuchte Julie, ihr klarzumachen, dass sie sich irren musste.
»Die Polizei wird herausfinden, wer von diesen Verbrechen profitiert«, sagte sie. »Das wird den besten Hinweis auf den oder die Täter geben.«
Myrtle starrte sie mit weit aufgerissenen Augen an. »Aber Julie!«, erwiderte sie mit einer Stimme, in der blankes Entsetzen mitschwang. »Willst du etwa ein Geständnis ablegen?«
»Warum sollte ich?«, fragte Julie, die nun wirklich ärgerlich wurde. »Ich hatte keinen Grund, Jolene oder Margaret umzubringen.«
»Das sehen nicht alle so«, kommentierte Myrtle spitz. »Sieh dich doch an! Du kommst nach Jahren wieder in die Stadt, übernimmst den Laden und tust erst einmal so, als würdest du dich gar nicht für unsere Arbeit interessieren.«
Arbeit? Welche Arbeit? Verwundert schüttelte Julie den Kopf und wollte gerade nachfragen, aber Myrtle sprach