»Und warum verkaufen Sie diesen Schund dann?«, fragte Mr Blair.
»Weil ich essen, trinken und mir etwas zum Anziehen kaufen muss?« Julie stemmte die Arme in die Hüfte. »Und lenken Sie nicht ab! Gibt es Fortschritte? Sind Sie dem Täter auf der Spur?«
Mr Blair kam auf sie zu, bis er ganz nah vor ihr stand. Wieder fühlte sie die Hitze, die von ihm ausging. Hastig trat sie einen Schritt zurück und stieß gegen den Tresen.
»Ich habe jede Menge Einzelteile«, sagte Mr Blair und sah ihr in die Augen, »aber sie ergeben kein Gesamtbild: zwei tote Hexen, jede Menge Gerüchte und ein Feuer, das eigentlich nicht existieren dürfte.«
Julie schluckte. Was wollte er damit andeuten? Was meinte er mit einem Feuer, das nicht existieren dürfte?
»Und immer wieder stoße ich bei meinen Ermittlungen auf Sie. Aber Sie weigern sich, mit mir zu sprechen. Der nächste Tote könnte auf Ihr Konto gehen, Miss Mireau. Reden Sie mit mir, bevor es zu spät ist«, sagte Mr Blair eindringlich.
Julie überlegte. Sollte sie ihm von den Puppen erzählen, die sie auf dem Friedhof gefunden hatte? Oder von ihren Träumen? Sie blickte in seine blauen Augen, die sie ernsthaft, beinahe besorgt ansahen. Eine Sekunde lang war sie versucht, ihm alles anzuvertrauen. Doch was würde er dann von ihr denken?
»Ich werde herausfinden, was Sie mir verschweigen«, versprach er, drehte sich ohne einen Abschiedsgruß um und verließ den Laden.
Erst als er weg war, erwachte Julie aus ihrer Erstarrung. Sie kramte in ihrer Tasche und fand tatsächlich die Karte, die er ihr am Tag nach Margarets Ermordung gegeben hatte. Neugierig warf sie einen Blick darauf. Auf einer Seite standen sein Name und eine Handynummer, sonst nichts. Doch als sie die Karte umdrehte, entdeckte sie etwas Interessantes: zwei Worte unter einer Telefonnummer mit New Yorker Vorwahl – »Shifter Cops«.
KAPITEL 9
Der Mond
Wütend starrte Julie auf den Computer und war versucht, ihm einen heftigen Schlag mit der flachen Hand zu versetzen. Sie hatte den Rest des Nachmittags damit verbracht, diverse Suchmaschinen mit dem Begriff »Shifter Cops« zu füttern. Das Ergebnis war allerdings gleich null. Entweder war das ein Witz oder … Oder was?
Einzeln hatten die Worte eine Unmenge an Treffern ergeben. Die Ergebnisse, die Julie für »Shifter« gefunden hatte, verwirrten sie allerdings zutiefst. Neben einigen Seiten mit technischem Schnickschnack gab es ein paar Firmen, die das Wort im Namen führten. Am meisten hatte sie jedoch Verweise auf Romane und Filme gefunden, die einen Gestaltwandler, also einen Shifter, als Helden hatten. So gab es nicht nur die klassischen Werwölfe, sondern auch liebestolle Bärenwandler, wagemutige Leopardenwandler und so weiter – was auch immer die Fantasie den Autoren in die Feder diktiert hatte. Doch was bedeutete die Karte, die Mr Blair ihr gegeben hatte? In dieser Hinsicht war sie noch immer nicht schlauer.
Kurz überlegte sie, ob sie einfach die angegebene New Yorker Nummer anrufen sollte, entschied sich dann aber dagegen. Erstens hätte sie nicht gewusst, was sie sagen sollte, falls dort wirklich jemand abnahm. Und zweitens konnte man doch wahrscheinlich davon ausgehen, dass die Person am anderen Ende der Leitung in dieses Spiel eingebunden war. Rein logisch betrachtet, ließ die Karte nur einen Schluss zu: Madoc Blair von der Polizei in New York hielt sich für einen Gestaltwandler.
Julie seufzte. Offenbar war die ganze Welt verrückt geworden. Sogar Chief Parsons, der Skeptiker in Sachen Übersinnliches, hatte Mr Blairs Einmischung in seine Ermittlungen hingenommen. Das konnte nur eines bedeuten: Mr Blair war wirklich Polizist, sein Ausweis war also nicht gefälscht, und er war von einer übergeordneten Stelle mit der Untersuchung der Todesfälle in Yarnville beauftragt worden.
Jeder hat das Recht auf seinen eigenen Wahnsinn, dachte Julie.
Mr Blair war da keine Ausnahme. Wenn sie sich im Kartenlegen versuchte, dann konnte er ihrethalben als Werwolf den Vollmond anheulen und nackt durch die Wälder rennen, wenn er das wollte.
Die Vorstellung, wie der nackte Mr Blair sein Gesicht dem Mond entgegenhob und ein sehnsuchtsvolles Geheul anstimmte, war so erheiternd, dass sich Julies Laune schlagartig besserte. Ob er bis zum nächsten Vollmond in der Stadt blieb? Vielleicht sollte sie ihm den einen oder anderen Tipp geben, welche Gegenden abgeschieden genug waren, damit er ungestört sein konnte. Obwohl, wenn sie ehrlich war …
Nein, genug, rief sie sich selbst zur Ordnung. Sie hatte schließlich noch etwas anderes vor. Mrs Saintclair wartete auf sie.
Julie sah auf die Uhr. Es war kurz vor fünf. Das Hexenmuseum in Salem hatte bis sieben Uhr abends geöffnet, und Julie hoffte, dass Gleiches auch für die Bibliothek galt. Falls nicht, würde sie Cassandra morgen für ein paar Stunden die Alleinherrschaft über das Itchy Witchy überlassen. In jedem Fall musste sie bald mit Mrs Saintclair sprechen und sie fragen, was es mit ihren Andeutungen auf sich hatte.
Außerdem hatte die Dame sie auf eine Idee gebracht: Sie würde in den historischen Dokumenten der Museumsbibliothek nach ortsansässigen Hexenfamilien suchen, die der schwarzen Magie nicht abgeneigt waren. Realistisch betrachtet waren ihre Erfolgsaussichten nicht besonders hoch, denn schließlich musste der Mörder von Jolene und Margaret nicht zwangsläufig einer der alten Hexenlinien entspringen. Nein, es war mehr ein Bauchgefühl, das ihr riet, es in Salem zu versuchen. Und hatte sie sich nicht vorgenommen, ihrer Intuition mehr zu vertrauen?
Eilig fuhr sie den Computer herunter, verabschiedete sich von Cassandra und machte sich auf den Weg.
Das Hexenmuseum lag in der Innenstadt von Salem und entsprechend nervenaufreibend gestaltete sich die Parkplatzsuche. Endlich fand Julie eine Lücke. Sie schnappte sich ihre Tasche, schloss den Wagen ab und lief los. Ihr blieb nur noch etwas mehr als eine Stunde, bevor das Museum schloss. Ohne nach rechts oder links zu schauen, trat sie auf die Straße. Plötzlich hörte sie hektisches Hupen, dann das Kreischen von Bremsen. Sie wandte den Kopf und sah ein Auto direkt auf sie zukommen. Unfähig, sich zu bewegen, stand sie für den Bruchteil einer Sekunde einfach nur da, bevor zwei starke Hände sie um die Taille packten und nach hinten rissen. Selbst durch ihre Jacke und das Shirt hindurch fühlte sie die Hitze auf ihrer Haut.
»Spionieren Sie mir etwa nach?«, fauchte Julie und versuchte vergeblich, sich aus Mr Blairs Griff zu befreien. Aber sie hatte keine Chance.
Schließlich ließ er sie los und sie drehte sich zu ihm um.
Nun packte er sie an den Schultern und sah ihr direkt in die Augen. »Sie durchgeknalltes Frauenzimmer, was ist eigentlich los mit Ihnen? Haben Sie als Kind nicht gelernt, wie man eine Straße überquert?«
Entgeistert starrte Julie ihn an. Dann hörte sie wüste Beschimpfungen hinter sich. Das musste der Autofahrer sein; er hatte sicherlich mindestens so einen Riesenschreck bekommen wie sie. Mr Blair warf einen strengen Blick in seine Richtung und die Litanei verstummte abrupt. Gleich darauf heulte ein Motor auf und ein Wagen fuhr davon.
Na toll, dachte Julie. Warum hatte sie nicht die Fähigkeit, einen Menschen allein durch intensives Anschauen in die Flucht zu schlagen?
»Wollen Sie nichts dazu sagen?«, fragte Mr Blair und nahm die Hände von ihren Schultern.
Immer noch fühlte sie die unmenschliche Wärme, die von seinem Körper ausging. Doch sie hatte keine Zeit, jetzt darüber nachzudenken. Sie murmelte ein trotziges »Danke« und lief auf wackeligen Beinen los. Aber diesmal sah sie nach links und rechts, bevor sie die Straße überquerte.
Schließlich erreichte sie das Museum. »Blödmann!«, keuchte sie atemlos und stürmte vorbei an dem Pförtner. »Ich habe nicht Sie gemeint«, rief sie zurück, ohne ihren Schritt zu verlangsamen.
Ah, da drüben war die Bibliothek, und