Erinnerung an meine Jahre in Berlin. Sammy Gronemann. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Sammy Gronemann
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783863935214
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zu sagen habe. Er drängte sich an meiner Seite durch die Gratulanten hindurch, und zu meiner Verblüffung war es nur folgendes, was Wolffsohn sagte: „Alfred, als ich eben noch ein paar Worte hinzufügen mußte, fiel mir im Augenblick nichts anderes ein als ein Zitat aus einer Rede, die Du einmal in Berlin gehalten hast. Vergib mir, daß ich Deinen Namen nicht genannt habe!“

      Erst ganz allmählich legten sich die Wogen der Begeisterung, und nun waren es die Gegner Wolffsohns, die recht kleinlaut geworden waren. Da geschah ein neuer Zwischenfall ganz anderer Art: Es war der erste Kongreß, der auf deutschem Boden stattfand, und, allgemeiner Übung folgend, hatte das Kongreßpräsidium kurz vor der Eröffnung ein Huldigungstelegramm an den deutschen Kaiser geschickt. Nun lief ein liebenswürdiges Antworttelegramm ein, und das setzte das Präsidium in nicht geringe Verlegenheit. Waren doch auf dem Kongreß sehr viele Linksradikale vertreten, und es war vorauszusehen, daß bei Verlesung des kaiserlichen Telegramms peinliche Zwischenfälle entstehen würden, peinlich für den Kongreß und vielleicht verhängnisvoll für die Demonstranten. Andererseits konnte man doch unmöglich von der Verlesung des Telegramms absehen. Wieder fand Wolffsohn einen Ausweg: Er ließ die Nachricht verbreiten, daß um die und die Stunde Franz Oppenheimer den sozialistischen Delegierten und Gästen einige vertrauliche Mitteilungen von Bedeutung zu machen hätte. Der Name von Franz Oppenheimer besaß große Anziehungskraft, und zu gegebener Zeit sammelten sich ausnahmslos alle Linken in dem betreffenden Zimmer, das von dem Plenarsaal räumlich weit entfernt war. Wolffsohn hatte Oppenheimer gesagt, er habe dort eine Rede zu halten und dürfe nicht aufhören, bevor er ihm ein Zeichen gäbe. Oppenheimer fragte sehr verwundert, was in aller Welt er denn reden solle. Wolffsohn sagte: „Das ist Ihre Sache. Sie haben nur zu reden und die Leute dort festzuhalten, solange ich es für nötig finde.“ – Oppenheimer blickte Wolffsohn an, merkte, daß irgend etwas dahintersteckte und sagte schmunzelnd: „Wolffsohn, das ist irgendein Schwindel. Ich weiß nicht welcher, aber ich mache mit“ und begab sich in das Zimmer. Jetzt nun, während alle „gefährlichen“ Elemente aus dem Saal entfernt waren, wurde von Nordau das Telegramm vorgelesen, das Auditorium klatschte, und nun erlöste Wolffsohn Oppenheimer. Die Hörer kehrten ziemlich erstaunt in den Kongreßsaal zurück und fragten sich: „Was hat Oppenheimer eigentlich gesagt?“ Als sie aber dann hörten, was vorgegangen war, begriffen sie freilich Wolffsohns Taktik, die meisten nahmen die Sache mit Humor, – aber leider nicht alle.

      Am Nachmittag gelangte plötzlich in den Kongreß das alarmierende Gerücht, daß auf Max Nordau ein Attentat geschehen sei. Man habe ihn wörtlich und körperlich insultiert. Podlischewski und ich wurden vom Präsidium beauftragt, den Tatbestand festzustellen, und wir eruierten folgenden: Nordau hatte mit einigen Freunden im Kongreßrestaurant gesessen, als S. ein radikaler Linker, auf ihn zutrat und ihn wegen jenes Zwischenfalls mit dem Kaiser-Telegramm, für daß er ihn verantwortlich machte, zur Rede stellte. S., ein sehr prachtvoller aber überaus temperamentvoller Mann, den ich persönlich recht gern hatte, ließ sich hinreißen, gegen Nordau Ausdrücke wie „unverschämt“ und „gemein“ zu gebrauchen, worauf Nordau sich vom Stuhl erhob und ihm eine Ohrfeige gab. S. wollte wiederschlagen, aber man fiel ihm in den Arm. – Das war alles, – aber genug, um die größte Erregung bei Delegierten und Gästen hervorzurufen. Die Empörung richtete sich hauptsächlich gegen S., denn ein Angriff auf Nordau erschien allen eine Art Majestätsverbrechen. Wolffsohn aber war besonders erbittert gegen Nordau, der ja zuerst zum Holz-Komment übergegangen war, und er gab die dann auch allseitig befolgte Parole aus, beim nächsten Auftreten Nordau mit eisigem Schweigen zu empfangen, während dieser doch sonst immer mit Beifallssturm begrüßt wurde, wenn er sich auf der Tribüne zeigte.

      S. wurde am nächsten Morgen von seinen Freunden auf das Schiff gebracht und nach New York zurückbefördert, um ihn vor der Volkswut zu schützen. Man erzählt nun folgendes, für dessen Wahrheit ich mich freilich nicht verbürge: S. hatte sich durch sein Temperament so ziemlich auf jedem Kongreß eine Ohrfeige zugezogen, und als seine Freunde ihn am Schiff in New York erwarteten, sollen sie nur gefragt haben – „Von wem?“, und als er sagte: „Von Nordau!“, hieß es: „Du renommierst!“ – In Hamburg aber spielte sich folgende Szene ab: Im Aktionskomitee machte Wolffsohn Nordau die heftigsten Vorwürfe. Nordau sagte: „Der Mann hat sich ungezogen benommen, und ich habe ihm die gebührende Antwort gegeben. Was denn hätte ich tun sollen?“ – Wolffsohn sagte: „In solchem Falle dreht man dem Mann den Rücken und entfernt sich.“ – „Nein“, antwortete Nordau, „das wäre eine Unhöflichkeit gewesen, deren ich niemals fähig gewesen wäre.“

      Die Lektüre des stenografischen Protokolls des Kongresses gibt kaum ein rechtes Bild von den Vorgängen, insbesondere am letzten Kongreßtage; denn in der Hauptsache spielten sich die Ereignisse hinter den Kulissen ab, und insbesondere in den Sitzungen des Permanenzausschusses, der wirklich beinahe permanent tagte. Die letzte Sitzung des Kongreßplenums dauerte eigentlich 18 Stunden. Sie begann am Donnerstag, den 30. Dezember, vor 10 Uhr und endete in der darauffolgenden Nacht um 4 Uhr. Sie war zwar immer wieder von langen Pausen unterbrochen, aber in diesen wartete man auf die Kundgebungen des Permanenzausschusses, der bei der von Stunde zu Stunde wechselnden Situation immer wieder zusammentreten mußte. Es herrschte eine fast unerträgliche Spannung und Nervosität, die im Permanenzausschuß oft zu lebhaften Eruptionen führten; da der Vorsitzende, Chaim Weizmann, sehr übermüdet und verärgert war, übergab er mir sehr oft den Vorsitz, und ich erinnere mich, welche Mühe ich hatte, Abstimmungen ordnungsgemäß durchzuführen. Die Delegierten waren nicht auf den Sitzen zu halten. Immer wieder bildeten sich Konventikel in den Ecken des Saales, so daß das Auszählen sehr schwer war. Insbesondere war es der überaus temperamentvolle Herbert Bentwich, der immer wieder aufsprang und irgendwelche Leute zu einer besonderen Besprechung heranholte. Ich war auf einen Tisch gestiegen, um die Versammlung überblicken zu können, und da kam es auch bei mir zu einer Eruption, und mir entschlüpfte der wenig parlamentarische Ausdruck: „Jetzt laufen die verfluchten Kerls doch wieder durcheinander!“ Diese Explosion rief stürmische Heiterkeit hervor, man besänftigte sich etwas, und so konnte man schließlich doch zu einem Ziel gelangen. Letzten Endes war aber alle aufgewendete Mühe nutzlos vertan; denn alles, was wir in den langen Sitzungen von Debatten schließlich als unseren Antrag an das Plenum festgesetzt hatten, wurde dort im letzten Moment wieder umgestoßen, als nacheinander die von uns nominierten Kandidaten erklärten, die Wahl nicht annehmen zu können. Und so kam es schließlich überhaupt nicht zu einer eigentlichen Wahl, sondern es blieb nichts anderes übrig, als auf eine Neuwahl zu verzichten und die alten Funktionäre sowohl der Exekutive wie des Aktionskomitees in ihren Ämtern zu belassen. Wolffsohn blieb also Präsident, aber unter diesen Umständen war niemand mit dem Ausgang zufrieden. Man schlich nach Kongreßschluß beim Morgengrauen äußerst deprimiert nach Hause. Die Stimmung war ganz anders als sonst nach Schluß eines Kongresses. Nicht einmal die Hymne wurde angestimmt. (Das Protokoll ist in diesem Punkte unzutreffend.)

      Der letzte Tag des Jahres brach an, und so hatte man nicht nach dem Silvesterabend, sondern vor ihm einen gehörigen Katzenjammer. Eine ziemlich verbreitete Anschauung war, daß David Wolffsohn den Gang der Ereignisse vorausgesehen und vielleicht auf dieses Ergebnis hingearbeitet hatte. Nach meiner Auffassung lag die Sache folgendermaßen: Nachdem Wolffsohn auf dem Kongreß einen so überaus starken Eindruck gemacht hatte, – zur größten Überraschung seiner Gegner und der von ihnen beeinflußten Menge – schlug man, um ihn zu beseitigen, eine ganz andere neue Taktik ein. Der Angriff richtete sich jetzt nicht mehr sowohl gegen seine Person als – gegen die Stadt Köln. Das, was vorher nur ein nebensächliches Argument gewesen war, daß nämlich der Sitz der Exekutive nicht mehr in einer Provinzstadt aufrechterhalten werden könne, wurde jetzt in den Vordergrund geschoben. So kam man denn zu der Formel, daß man gegen das Präsidium von Wolffsohn von dem Moment an nichts mehr einzuwenden haben würde, indem er sich entschließen würde, nach Berlin zu übersiedeln. Man glaube, sicher zu sein, daß er diese Bedingung ablehnen würde, und Wolffsohn tat alles, um die Delegierten in dieser Ansicht zu bestärken. Denn er wußte sehr wohl, daß, wenn er jetzt etwa seine Bereitwilligkeit, nach Berlin zu ziehen, ausdrücken würde, dann sofort der Kampf gegen seine Person neu einsetzen würde. Im Stillen aber dachte er wohl daran, wenn erst der Kongreß auf jene Formel sich festgelegt haben würde, dann nach einiger Zeit doch die Übersiedlung vorzunehmen und so den Gegnern den Wind aus den Segeln zu nehmen. Dann aber, nachdem er dieses Opfer gebracht haben würde, würde seine Position nahezu