Erinnerung an meine Jahre in Berlin. Sammy Gronemann. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Sammy Gronemann
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783863935214
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ein und erreichte wieder, daß die Scheidung anerkannt wurde, und wieder klagte die erste Frau; deren Anwalt war diesmal der bekannte sozial­demokratische Politiker Wolfgang Heine, und in der Verhandlung ließ er sich mit großer Empörung über dieses Verfahren aus und erklärte mit Emphase, ein solcher Fall wäre noch nicht dagewesen, und kein deutscher Jurist könne es billigen und ihm zustimmen. Darauf konnte ich nicht nur darauf hinweisen, daß es bereits in dem von mir geschilderten Fall ein Präjudiz gäbe, sondern ich konnte jene ministerielle Verfügung produzieren, unter der der Name des Innenministers prangte, der niemand anders war als eben Herr Wolfgang Heine, der damals dieses Amt bekleidet hatte. – Herr Heine war zunächst äußerst verblüfft, machte aber dann gute Miene zum bösen Spiel, lachte herzlich und beglückwünschte mich zu dieser merkwürdigen Chance, die mir in den Schoß gefallen war. Natürlich fiel seine Klientin denn auch mit ihrem Prozeß ab.

      Die Divergenzen zwischen deutschem, jüdischem und russischem Recht führten oft zu merkwürdigen Kombinationen. Da hatten zwei junge Leute in Deutschland sich nur rabbinisch trauen lassen. Das hatte gesetzlich an sich keinerlei Wirkung, war sogar verboten. Wenn aber bei dem zuständigen russischen Gericht später diese Eheschließung registriert wurde, war das eine nach russischem zaristischem Recht gültige Eheschließung, und die Ehe datierte von dem Tage der rabbinischen Trauung in Berlin an. Da geschah nun folgendes: Einige Monate nach jener also zunächst ungültigen Eheschließung fuhr der Ehemann in seinen Heimatort nach Rußland und ließ die Registrierung vornehmen. Damit war die Ehe also rechtsgültig, und nach den bestehenden Verträgen mußte sie nun auch in Deutschland anerkannt werden, so daß das Paar von seiner Trauung an als legales Ehepaar galt. Als aber der junge Ehemann wieder nach Berlin kam, fand er, daß seine Frau inzwischen vor dem Standesamt einen anderen geheiratet hatte, was sie ja auch nach deutschem Recht tun konnte, solange die Ehe nicht in Rußland legalisiert war. Auf diese Weise hatte die Frau nun zwei ihr gesetzlich angetraute Ehemänner. Es entstand jetzt ein Streit zwischen den beiden glücklichen Gatten, bei dem jeder der beiden Ehemänner den andern an Großmut zu übertreffen suchte, indem er ihm die Frau überließ, also behauptete, nicht er, sondern der andere sei der rechte Ehemann. Bevor ich, um ein Gutachten angegangen, damit zustande kam, erledigte sich der Fall dadurch, daß die Frau mit einem dritten Mann durchging, und beide Ehemänner schienen jegliches Interesse verloren zu haben.

      Ein jüdischer Restaurateur wollte in dem ostjüdischen Viertel um die Dragonerstraße herum ein rituelles Restaurant eröffnen. Der Polizeipräsident verweigerte die Konzession mit der Begründung, daß in dieser Gegend schon genügend Gastwirtschaften vorhanden seien, und er die Bedürfnisfrage verneinte. Ich klagte beim Bezirksausschuß gegen den Polizeipräsidenten mit der Begrün­dung, daß es sich hier um eine Gaststätte besonderer Art, nämlich um ein rituelles Restaurant handle. In der Verhandlung las mir der Vorsitzende Stadtrat Schulz eine von ihm eingeforderte Auskunft der Berliner Jüdischen Gemeinde vor, in der Herr Dr. Ismar Freund als Vertreter der Gemeinde erklärte, der betreffende Restaurateur stände nicht unter Aufsicht der Gemeinde, so daß also der Betrieb von ihr aus nicht als rituell bezeugt werden könne. „Ja“, sagte der Herr Stadtrat, „damit entfällt Ihre Begründung, Herr Rechtsanwalt.“ Ich stutzte einen Moment, denn wie sollte ich diesem christlichen Richter klarmachen, daß es rituelle Betriebe geben könne, ohne daß die Aufsicht eines Gemeinderabbinats existiere. Ich half mir, indem ich sagte: „Herr Stadtrat, ich werde Ihnen eine Analogie geben. Es gibt doch eine Menge junger Mädchen, die nicht unter Kontrolle stehen und auch sehr nett sind.“ – Dieses Beispiel leuchtete ihm ein, und mein Klient erhielt eine Konzession.

      VI.

      Im Sommer 1909 fuhr ich mit meiner Frau zu deren Eltern auf die „Datsche“ im ukrainischen Urwald. Wir kamen auf der kleinen Station Korostyn zwischen Kowel und Kiew in sehr früher Morgenstunde an. Dort, an dem Verladeplatz des Holzes aus dem Walde meines Schwiegervaters, wurden wir mit einem prächtigen Frühstück empfangen und fuhren dann einige Stunden durch den märchenhaften Wald zu dem Landhaus. Das lag nun also stundenweit von jeder Siedlung entfernt, ganz einsam, und nur die Familie nebst Dienerschaft, die in einem besonderen Hause wohnte, bildeten meinen Umgang. Für mich war das ein vollkommen neues und unbekanntes Leben. Nie war ich in eine derartig enge Berührung mit der Natur gekommen, und ich wanderte staunend zwischen dem Baumriesen umher. Schon morgens ganz früh in Tallis und Tefillen erging ich mich in einem merkwürdigen Wohlgefühl, so ungestört mich als Jude der „Welt“ präsentieren zu können. Vor der Tür auf der Terrasse wurde schon der Samowar gezündet, der den ganzen Tag brannte, und an den sich jeder Ein- und Ausgehende im Vorübergehen selbst bediente. Herrlich war es, vor dem Hause zu frühstücken, dabei die fleißigen Spechte und Meisen in ihrer Arbeit an den Bäumen zu beobachten, und wie nett war es, wenn etwa Eichhörnchen aus dem Walde heranhüpften und zutraulich am Frühstück teilnahmen. Welche Freude für die Kinder, wenn solch ein Tierchen ihnen auf die Schultern kletterte. Ich bewunderte die riesigen Ameisenhaufen und sonstige Fauna des Waldes, und bei den langen Spaziergängen traf ich kaum jemals einen Menschen. Ja, einmal stieß ich auf einen alten russischen Bauern, der mich freundlich begrüßte. Da ich kein Wort russisch verstand, half ich mir pantomimisch und gab ihm eine Zigarre, die er zu meiner Verblüffung grinsend und mit Wohlbehagen – zu verspeisen begann. In diese Weltabgeschiedenheit war offenbar noch nie eine Zigarre gelangt. – Alles dort war mir neu. Ich hatte eben der Natur nie so unmittelbar gegenübergestanden wie in jener Zeit. War ich doch in der Großstadt aufgewachsen, und hatte ich doch kaum je Gelegenheit gehabt, die Welt wirklich, wie sie Gott geschaffen hat, kennenzulernen. Hier befand ich mich mitten in einem jungfräulichen Wald. Er war wundervoll, gewaltig, herrlich schön, – ich empfand ja die Schönheit und die Majestät der Natur, aber ich weiß nicht, was es war, es sprengte mir fast das Herz. Ich war überwältigt und wurde regelrecht melancholisch. Ich verlor meinen gesunden Schlaf, meine Laune, entlief fast immer meiner Umgebung und streckte mich einsam irgendwo im Walde hin, unfähig zu denken, ganz und gar mich dieser rätselhaften Depression hingebend. Die Meinen waren recht beunruhigt, und meine sehr gescheite Schwiegermutter erklärte, daß sie das nicht länger mit ansehen könnte, ich würde da vollkommen gemütskrank, und wir beschlossen, daß ich den auf Monate berechneten Aufenthalt abbrechen und auf Reisen gehen sollte.

      Meine Reise ging zunächst über Kiew nach Odessa. Stundenlang fährt man da durch die Steppe, ohne ein Haus, oft auch nur einen Baum zu sehen, und gerade diese Eintönigkeit bietet wieder ein besonderes Interesse.

      Odessa war für mich recht interessant. Die große steinerne Treppe, die in dem Film „Potemkin“ eine solche Rolle spielt, daß Treiben auf der prachtvollen Strandpromenade, dem Nikolai-Boulevard und Alexanderpark waren anziehend genug. Mit Erstaunen bemerkte ich im jüdischen Restaurant, daß die Jugend dort im allgemeinen weder Hebräisch noch Jiddisch verstand, sondern ganz russifiziert war. Es ist ein eigenartiges Gefühl, im Gewühl herumzuspazieren, wenn man kein Wort der Landessprache versteht, und es war für mich ein interessanter Sport, mit Hilfe meiner Sprachführer, und noch mehr durch Pantomime, mich mit allerhand Leuten zu unterhalten. In dem sehr eleganten Hotel, in dem ich abgestiegen war, sprach man freilich deutsch, französisch, englisch und jiddisch. Ich stand morgens vor dem Hotel und sah mir das Treiben an, als der Geschäftsführer dienstbeflissen an mich herantrat, ob er mir bei Einkäufen behilflich sein könne, ob er mir einen Wagen besorgen solle oder vielleicht Theaterbillets, ob ich weibliche Gesellschaft auf’s Zimmer wünsche (unter „Commodité“ auf Rechnung zu setzen). Er war recht enttäuscht, als ich auf keinen dieser verlockenden Vorschläge einging, und grübelte angestrengt, was er mir noch offerieren könne. Endlich kam ihm eine Erleuchtung: „Haben Sie schon Schekel gezahlt?“ – Der Mann hatte eben alles auf Lager. – Nachdem ich von Odessa genug hatte, fuhr ich nach Rumänien über die Grenzstation Ungheni, vorbei an Kischineff, das traurige Erinnerungen an den Progrom von 1903 erweckte. Unterwegs machte ich die Bekanntschaft eines ungarischen höheren Eisenbahnbeamten, eines alten Junggesellen, der sich als Lebemann aufspielte und mir allerhand seltsame galante Erlebnisse, die er in Berlin gehabt haben wollte, erzählte. Ich habe ihm wie noch zu berich­ten ist, später auch ein erstaunliches, kleines Abenteuer verschafft. – In Russisch Ungheni im Wartesaal geschah es, als ich zur Verständigung mit dem Kellner in einem Polyglott Kunze blätterte, daß der Kellner hinter das Büffet sprang und nun auch mit dem gleichen Sprachführer – bloß russisch-deutsch statt deutsch-russisch – erschien, wonach dann die Verständigung