Erinnerung an meine Jahre in Berlin. Sammy Gronemann. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Sammy Gronemann
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783863935214
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Soldaten mit aufgepflanztem Bajonett. Die Herren gingen den Zug entlang, ließen sich die Pässe zeigen, auf die sie irgendeinen Stempel drückten und zurückgaben. So geschah es auch im letzten Abteil mit meinem Reisegefährten. Meinen Paß aber sah sich der Beamte mißtrauisch an und fragte mich, woher ich käme. Ich sagte: „Von Iskorost.“ – „Wo liegt das?“, fragte er. (Die Unterhaltung wurde französisch geführt). Ich sagte: „Bei Korostyn.“ Auch dieser Ort war ihm erstaunlicherweise unbekannt. „Und wo liegt das?“ – Ich sagte: „Bei Uschomir.“ – Er blieb eine Weile nachdenklich und stellte dann die erstaunliche Frage: „Haben Sie schmutzige Wäsche?“ Ich antwortete ahnungslos: „Ja, natürlich.“ – „Gut“, sagte er, und statt mir meinen Paß zurückzugeben, gab er ihn einem Soldaten und erklärte mir: „Auf der Station werden Sie ihre Anweisungen für die Quarantäne erhalten.“ Ich bekam keinen kleinen Schreck, – meine Verulkung hatte schlechte Wirkungen hervorgerufen – aber schon hatte er sich umgedreht, gab auf rumänisch dem Soldaten Anweisungen, und einer der Krieger stellte sich auf das Trittbrett vor meinem Fenster, während der Herr sich, höflich den Strohhut lüftend, entfernte. Wenige Minuten darauf standen wir in der Station, und mein militärischer Begleiter lieferte mich im Stationsbüro ab. Dort saß ein korrekter Herr, der mich den Koffer öffnen ließ, ihn durchsah und dann erklärte: „Sie werden unter Eskorte nach Bukarest kommen in das Spital, und nach drei Tagen, wenn sich nichts Verdächtiges zeigt, werden Sie entlassen.“ – Ich versuchte, ihm das auszureden, aber er erklärte: „Mein Herr, meine Vorschriften sind streng. Ich kann davon nicht absehen.“ Ich sah, daß ich es anders versuchen mußte. Den Weg der Korruption zu beschreiten, traute ich mich damals nicht, – ich sagte: „Also gut, dann ist nichts zu machen, wenn Ihre Instruktionen so formell sind. Aber sagen Sie mir bitte, was haben Sie dort für einen Kachelofen?“ Er war nun seinerseits recht erstaunt und fragte mich, wieso mich das interessiere. Ich erklärte ihm, ich wäre Korrespondent großer Berliner Zeitungen und sammle folkloristisches Material. Ich würde natürlich auch über die Ergebnisse hier interessante Berichte schreiben. Er stutzte etwas. Offenbar war es ihm nicht ganz recht, wenn ich von Grenzschikanen berichten würde. Aber ich ließ ihm gar keine Zeit, sondern verwickelte ihn in ein allgemeines Gespräch. Nach einigen Minuten saßen wir am Tisch, und ich erzählte unaufhörlich allerhand Anekdoten. Er hatte sich wohl an diesem Posten lange nicht so gut unterhalten, und wir waren bald gute Freunde. Als dann der Zug nach Bukarest einlief und meine Wache mich in Empfang nehmen wollte, sagte ich, ihm nun auf die Schulter klopfend: „Nun, jetzt sind wir doch gute Freunde. Können Sie wirklich nichts für mich tun?“, worauf er lachte, dem Soldaten den Paß abnahm und mir gute Reise wünschte. Ich sah wieder einmal, daß man mit Humor und guten Witzen oft die schwierigste Situation überstehen kann. Mein Reisegefährte, der ungarische Beamte, war sehr glücklich, mich wieder zu sehen. Wir machten Station in Jassy. Wir kamen dort 2 Uhr mittags an, und unser Zug ging erst abends um 6 Uhr weiter. In einem Caféhaus erfrischten wir uns, – es war ein glühendheißer Tag. Ich fragte den bedienenden Kellner, wie es Dr. Lippe gehe (dem Alterspräsidenten des I. Kongresses) und erhielt befriedigende Auskunft. Mein Reisegefährte, Herr Komarow, war erstaunt, daß ich auch in Jassy Bekannte hatte. Aber er sollte noch mehr erstaunen. Ich trennte mich von ihm, da ich das Judenviertel besichtigen wollte, und wir verabredeten ein Treffen am Bahnhof kurz vor sechs. Ich wanderte nun durch das Judenviertel, Straßen auf Straßen voll Trödlerläden. Ich hatte den Eindruck, daß die Juden von Jassy davon leben, daß sie sich gegenseitig alte Hosen verkaufen. Dann bestieg ich die Straßenbahn, um auch andere Teile der Stadt zu besichtigen. Neben mir saß eine höchst anziehende junge Dame. Ich hielt meinen Reiseführer aufgeschlagen in der Hand und fragte naiv, als wir an einer schmutzigen, zerfallenen Kaserne vorbeikamen, ob das die Kathedrale sei. Sie war ziemlich verblüfft und versuchte, mich aufzuklären. Als ich dann aber, als wir an einer stattlichen Kirche vorbeikamen, auf meinen Plan deutend frug, ob das die Kaserne sei, gingen ihr die Augen auf, und sie fragte mich, ob ich sie verulken wolle. Ich sagte entrüstet: „Ich kann mir nicht denken, daß Sie das jetzt erst merken.“ Sie meinte: „Wenn Sie die Stadt sehen wollen, müssen Sie sich einen Wagen nehmen und sich führen lassen.“ – „Also führen Sie?“, sagte ich. Sie lachte, – und bald saßen wir in einem Wagen und begannen eine Rundfahrt, bei der sie mir die nicht allzu zahlreichen Sehenswürdigkeiten der Stadt zeigte. Diese Wagenfahrt war in jeder Beziehung ein Genuß. So herrliche Pferde wie hier und in Bukarest habe ich kaum je gesehen, und die Kutscher, feist und glattrasiert, – durchweg Eunuchen – in den samtenen langen Kitteln mit den seidigen Schärpen bilden eine Sehenswürdigkeit für sich. Sie bilden eine besondere Sekte unter dem Namen „Lipovaren.“ Auf dieser Fahrt kamen wir gleich zu Anfang an einem Gartenlokal vorbei, und dort saß eine große Gesellschaft von jungen Leuten und Damen an langen Tischen. Als sie des Wagens und meiner Begleiterin ansichtig wurden, entstand ein großes Hallo, der Wagen wurde angehalten, man umringte uns, und erst allmählich entnahm ich dem Gesprächswirrwarr, daß es eine Gesellschaft von Studenten der Universität und daß meine Begleiterin eine Assistenzärztin eines dortigen Professors war. Sie erzählte ihrer Gesellschaft, wie sie an mich geraten war, und die jungen Leute beschlossen, alle mir die Eskorte zu geben. Sie bestiegen die wartenden Wagen, und so kam es, daß ich vor sechs an der Spitze einer großen Wagenprozession vor dem Bahnhof landete, wo mich Herr Komarow erwartete. Er war ziemlich erstaunt, daß ich so schnell Bekanntschaft in Jassy gefunden hatte. Ich stellte den alten Herren als meinen Onkel vor und erklärte ihm, daß die Damen der Gesellschaft alles meine Cousinen, also auch seine Verwandten seien, und er war ganz erstarrt, als die jungen Damen ihn umringten und abküßten. – Daß meine Depression sich inzwischen einigermaßen gegeben hatte, geht aus dieser Erzählung vielleicht zur Genüge hervor.

      Ich kam also dann nach Bukarest. Die Stadt bot damals nicht entfernt das glänzende Bild, das sich mir Jahrzehnte später präsentierte, und trotz des interessanten halborientalischen Lebens, des glanzvollen Korsos auf der „Chaussee“, des Betriebes in der „Flora“, mißfiel sie mir eigentlich eher. Sie hatte zwar einige reizende Partien, aber im ganzen wimmelte die Stadt von architektonischen Scheußlichkeiten und geschmack­­losen Denkmälern. Reizvoll war das Getriebe der Zigeuner. Wenn man einem von den schmutzpatinierten Buben etwas schenkte, konnte man Straßen lang die bettelnde Schar der Jungen nicht loswerden. Ich machte mich bald davon und blieb zwei Tage in dem reizend gelegenen Herkulesbad. Vergeblich forschte ich dort in den zahlreichen jüdischen Läden, wo es ein rituelles Restaurant gäbe. Die Inhaber starrten mich unglaublich und fast mißtrauisch an; sie konnten sich scheinbar gar nicht vorstellen, daß ein westeuropäischer Tourist ein derartiges Verlangen hatte. Zu meiner freudigen Überraschung stellte ich dann aber fest, daß in dem recht eleganten Kurhaushotel, in dem ich abgestiegen war, unter der Aufsicht des Rabbiners von Orsowa eine koschere Fischküche eingerichtet war, und so konnte ich bei den Klängen eines guten Zigeunerorchesters neben einer recht soigniert aussehenden Gesellschaft von Kurgästen dinieren. Merkwürdig war folgendes: Ich hatte, wie es allgemein üblich ist, meine Brieftasche und meine Barschaft im Hotelbüro zur Aufbewahrung deponiert. Aber als ich abends dem Tanze im Kursaal zusah, suchte mich der Wirt auf und bat mich, meine Sachen doch lieber an mich zu nehmen, da sie bei mir sicherer wären als in seinem Büro. Am zweiten Abend schon in der Dämmerung fuhr ich in einem Wagen nach Orsowa, um dort den Donaudampfer, der mich stromaufwärts bringen sollte, zu besteigen. Da erlebte ich ein reizendes Intermezzo: Als der Wagen um die Ecke des Hotelparks bog, erscholl ein „Stop“, und aus dem Gebüsch sprang ein Stubenmädchen, das ich bis dahin kaum zu Gesicht bekommen hatte, auf das Trittbrett, steckte mir eine Rose ins Knopfloch, gab mir einen Kuß und verschwand, ehe ich mich von meiner Überraschung erholen konnte. Nach angenehmer Fahrt kam ich nach Orsowa, wo der Dampfer lag, der am andern Morgen fortgehen sollte. Ich richtete mich in meiner Kabine ein und spazierte dann noch sehr lang auf dem Deck in Gesellschaft eines älteren jüdischen Arztes, dem offenbar das, was ich ihm über die jüdisch-nationale Idee und den Zionismus erzählte, vollkommen neu war. – Früh am andern Morgen beobachtete ich, wie die Schiffsgäste an Bord kamen. Dabei fiel mein Blick auf die schöne Rose des Stubenmädchens, und, da die Blume schon den Kopf sinken ließ, warf ich sie achtlos auf die Laufplanke. Da geschah etwas Unerwartetes: Nach einiger Zeit kam eine wunderschöne, höchst elegante Frau, umgeben von einem ganzen Stab ebenso eleganter Herren, und als sie über die Planke ging, stutzte sie, bückte sich und nahm die Rose, reinigte sie und steckte sie sich ins Haar, und den ganzen Tag sah ich ebenso bewundernd wie beschämt diese Dame auf dem Deck sitzen, wie sie mit