Erinnerung an meine Jahre in Berlin. Sammy Gronemann. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Sammy Gronemann
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783863935214
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über die auf dem Lande üblichen Preise orientiert sein konnte. So gab es einen Freispruch. Des Rätsels Lösung: Jener Mann war auf den Schiffen als „Koscher – Wächter“ angestellt gewesen, d. h. er hatte in den für die Auswanderer eingerichteten rituellen Küchen für die Beobachtung der religiösen Vorschriften zu sorgen.

      Jene Verwechslung von Majer und Major erinnert mich daran, wie oft der Tippfehlerteufel, der mit dem Druckfehlerteufel nahe verwandt sein muß, drollige Kapriolen macht. In einem Theaterprozeß las ich mit Erstaunen in dem gegnerischen Schriftsatz: „Zufällig befanden sich bei der Vorstellung im Zuschauerraum auch einige Christen.“ – Es sollte natürlich heißen: „Choristen“.

      Man konnte sich in jenen Kreisen mit der immer komplizierter werdenden Steuergesetzgebung wenig befreunden. Aber dadurch unterschieden sich diese Kreise kaum von der urdeutschen Bevölkerung. Erst die Steuerreform und die immer wachsenden Lasten, vor allen in späterer Zeit nach dem I. Weltkrieg, machten das deutsche Volk erst wirklich zum Volk der „Denker und Dichter.“ Da kam z. B. eine Frau zu mir mit der naiven Frage: „Welches Einkommen muß ich angeben, wenn ich die und die Steuer bezahlen will?“ Sie wollte also die Sache beim andern Ende anpacken. – Noch merkwürdiger war die Frage, die ein Ehepaar an mich richtete: Die abgegebene Steuererklärung war beanstandet, und der Beamte hatte ihnen vorgerechnet, daß bei der luxuriösen Wohnung, die sie hatten, bei den Reisen, die sie unternahmen etc., – der Beamte hatte durch seine genaue Kenntnis ihrer Lebensumstände sie nicht wenig verblüfft – ihre Erklärungen unmöglich richtig seien können. Also mußte der Mann wohl oder übel zugeben, daß er eine falsche Erklärung abgegeben hatte. Aber nun fürchtete er noch außer der Steuer eine Bestrafung wegen falscher Deklaration und fragte mich, ob ich ihm nicht einen Ausweg zeigen könne dahingehend, daß er irgendwoher ein Einkommen bezog, von dem er hätte annehmen können, daß es nicht steuerpflichtig sei. Selbstverständlich lehnte ich es ab, ihm bei einem solchen Betrug behilflich zu sein, und das Ehepaar entfernte sich zögernd. In der Tür aber wendete sich die Frau um und sagte: „Schade, daß Sie uns nicht helfen wollen. Ich hatte einen so guten Gedanken. Wie ist es, wenn die Frau einen Liebhaber hat, und der ihr Geld zuwendet, muß der Mann das deklarieren?“ – Ich versagte mir, der Frau meinen persönlichen Eindruck mitzuteilen, daß, wenn das Gericht etwa zu einer Augenscheinsnahme, d. h. zur Besichtigung der Dame sich entschließen würde, sie kaum für jene Behauptung, daß sie einen Liebhaber hätte, Glauben finden würde.

      In Parenthese: Der Mangel an weiblichen Reizen hat in einem Falle ein seltsames Urteil hervorgerufen. Da stand eine Frau wegen Ehebruchs vor Gericht – ein höchst seltener Fall, da Ehebruch nur nach vollzogener Scheidung und nur auf Antrag strafbar war – und trotz des Geständnisses wurde die Frau freigesprochen, da das Gericht erklärte, bei dem Aussehen der Frau hielte es das Geständnis für unglaubwürdig und einen Ehebruch für ausgeschlossen. Das Berufungsgericht hat übrigens in diesem Falle – an dem ich nicht beteiligt war – das Urteil aufgehoben.

      Bisweilen brachte es die Praxis mit sich, daß spezifisch jüdische Gebräuche und rituelle Gesetze vor einem Forum nichtjüdischer Richter erörtert werden mußten, und da erforderte es oft viel Geschicklichkeit und Takt, einem solchen Gremium die Be­stim­mungen des Schulchan Aruch oder rabbinischer Tradition klarzumachen. Fehlten doch diesen Herren, vor denen etwa die Bedeutung des Cherem des Rabbenu Gerschon oder des Eruw zu erörtern war, die primitivsten Voraussetzungen. Und so kam ich begreiflicherweise des öfteren in die Lage, vor einem solchen Kollegium populäre Vorträge über derartige Themata zu halten.

      In meinem „Tohuwabohu“ habe ich ausführlich eine solche Verhandlung geschildert, in der von einem Berliner Gericht die Frage erörtert wird, ob der Etrog durch Fehlen des Stengels unbrauchbar für rituelle Zwecke wird. Diesen Prozeß habe ich tatsächlich geführt, freilich nicht unter den dort gezeichneten Begleitumständen. Aber auch eine solche Szene, in der der jüdische Anwalt, der mit der Taufe auch seinen Namen geändert – arisiert – hat und von dem boshaften Präsidenten gefrotzelt wird, hat sich tatsächlich beim Landgericht III vor dem Landgerichtsdirektor Zimmermann abgespielt. Eine Zeitlang war es geradezu eine Manie bei gewissen jüdischen Anwälten geworden, solche Namensänderungen vorzunehmen und damit gerade den Spott herauszufordern. Aus Cohn wurde Cornelius oder Korn, aus Levy Lenssen, und ich habe einmal in Transves­tierung von Christian Morgenstern „Die Möwen sehen alle aus als ob sie Emma hießen „gesagt: „ Die Lenssen sehen alle aus als ob sie Levy hießen.“ – Ein Kuriosum möchte ich in diesem Zusammenhange erzählen. Da waren zwei Brüder Cohn, beide Berliner Anwälte, beide ließen sich taufen, aber nur dem einen von ihnen gelang die Namensänderung. Gerade dieser heiratete später ein jüdisches Mädchen, auf deren Verlangen er nun wieder Jude wurde. Und so kam es, daß von den beiden Brüdern der jüdische mit dem arischen Namen und der christliche mit dem Namen Cohn firmierte.

      Einmal hatte ich vor Gericht die bedeutungsvolle Frage zu erörtern, wann eine Gans „ower“ wurde, d. h. unbrauchbar wurde, weil sie nicht rechtzeitig gesalzen war. Der gegnerische Anwalt, Jude, hielt es für angebracht, mit Nachdruck zu betonen, daß er von diesen Sachen nichts wisse. Zu meiner freudigen Überraschung griff da der jüdische Vorsitzende ein und sagte: „Das ist auch nicht nötig, denn diese Sachen kenne ich aus der eigenen Erfahrung sehr gut, da ich einen rituellen Haushalt führe.“

      Einmal führte ich beim Amtsgericht Mitte einen Prozeß gegen eine jüdische Kolonisationsgesellschaft, und der amtierende Richter war niemand anders als Adolf Friedemann, der Redakteur des zionistischen ABC-Buches. Ich machte mir den Scherz, mich auf das Gutachten eben des Herausgebers dieses Werkes zu berufen, dessen Nehmen, wie ich sagte, mir im Augenblick entfallen wäre. Weiter benannte ich als Zeugen den bekannten Zionisten Dr. Hugo Schachtel in Breslau, dessen Adresse, wie ich sagte, mir auch entfallen wäre, worauf zum höchsten Erstaunen meines ahnungslosen Gegners der Richter Friedemann erklärte, diese Adresse sei gerichtsnotorisch und sie nannte. In dieser Sache kam es, wie ich mich erinnere, zu einem Vergleiche, was wohl selbstverständlich war, da Herr Friedemann Neigung und Fähigkeit hatte, alle vor ihn gelangenden Sachen zu vergleichen, und sich so die Mühe einer Urteilsabsetzung ersparte.

      Auch eine andere forensische Geschichte, die ich in einem meiner Bücher erzählte, hat sich tatsächlich ereignet. Da weigerte sich ein Synagogenverein, dem für die hohen Feiertage arrangierten Vorbeter das volle Honorar zu zahlen, weil er in einer Betpause am Versöhnungstage gegessen habe. Der amtierende Richter konnte absolut nicht begreifen, worin das Vergehen gelegen haben sollte. Er erklärte kategorisch: „ Wer arbeitet, muß auch essen“, und eine entgegenstehende Bestimmung sei gegen die guten Sitten verstoßend. – Dementsprechend entschied er. In der Berufungsinstanz wurde das Urteil nach Vernehmung mehrerer Rabbiner als Sachverständiger abgeändert, indem das Gericht das vereinbarte Honorar wegen Wertminderung der geleisteten Arbeit herabsetzte.

      Ein besonders schwieriges Problem, das mehrfach an mich herantrat, war es, die minutiösen Bestimmungen talmudischen Rechts in Ehesachen dem Verständnis arischer Richter nahezu bringen. Dabei handelte es sich natürlich immer um die Ehen nichtdeutscher Parteien. Besonders spielte da eben jener Cherem des Rabbenu Gerschon eine Rolle. Das durch diesen Cherem ausgesprochene Verbot der Doppelehe kann durch die Entscheidung von 100 Rabbinen aus drei verschiedenen Ländern aufgehoben, damit also dem Ehemann eine zweite Ehe gestattet werden. Diese Manipulation habe ich nun mehrfach durchgeführt. Es handelte sich dann immer darum, daß die erste Ehefrau die Annahme des Scheidebriefes verweigerte. Ich mußte nun der Behörde klarmachen, daß damit eine nach talmudischem Recht gültige Ehescheidung vollzogen sei, sobald das Rabbinat in dem russischen Heimatort des Mannes das Verfahren durch Urteilsspruch bestätigte. Das Standesamt weigerte sich zunächst, dies anzuerkennen, und meine Beschwerde ging den Instanzenzug bis zum Justizminister. Nach Einholung vieler Gutachten erließen schließlich der Justizminister und der Innen­minister eine Verfügung, wonach mein Standpunkt anerkannt und das Standesamt Charlottenburg-Wilmersdorf, vor dem seinerzeit die Ehe geschlossen war, angewiesen wurde einzutragen, daß die Ehe durch rabbinisches Urteil geschieden sei, – ein bis damals unerhörter Vorgang. Der Mann heiratete nun auf’s neue, aber die erste Ehefrau strengte einen Prozeß an mit dem Antrag, die Scheidung und die zweite Ehe für nichtig zu erklären. Sie wurde mit der Klage abgewiesen. Aber nun kam das Erstaunliche: Jetzt klagte die zweite Frau nach einiger Zeit auf Auflösung ihrer Ehe, da die erste Ehe noch zu Recht bestände, und die Scheidung